von Friederike Hoffmann-Klein –
Wer heute das Wort „Wahrheit“ in den Mund nimmt, wird allzu schnell einem Fundamentalismus-Verdacht ausgesetzt. In einer Zeit, die Wahrheit, jedenfalls außerhalb des Empirischen, ganz in den subjektiven Bereich verweist, wird bereits die Suche nach Wahrheit – einst der Ausgangspunkt aller Philosophie – als tendenziell intolerant angesehen. Dahinter steht der Gedanke, dass niemand seine Überzeugung absolut setzen könne, da doch jeder etwas anderes für wahr und richtig halte.
Niemand ist so naiv, seine eigenen Überzeugungen einfach für allgemeingültig zu erklären. Persönliche Überzeugungen bleiben persönliche Überzeugungen. Wer aber auf Wahrheit verweist, will damit nicht den Zweifel ausschließen. Es geht lediglich darum, dass Wahrheit eine objektive Kategorie ist.
Die entscheidende Frage ist also: Kann es außerhalb des Bereichs des Empirischen so etwas wie Wahrheit überhaupt geben? Dies wird heute oft nicht mehr für möglich gehalten, bzw. sogar explizit ausgeschlossen. Eine anscheinend realistische Sichtweise – jedenfalls erhebt sie diesen Anspruch – prägt sehr stark das Denken auf allen Gebieten. Die antike Philosophie hat genau das Gegenteil gelehrt. Aufgabe der Philosophie ist es nach Platon, die Wirklichkeit auf ihr wahres und wesentliches Sein hin zu erkennen. Der menschliche Geist ist auf Wahrheit hin ausgerichtet. Dieser besitzt das Wissen um die Wahrheit schon kraft seiner Natur. Damit wird dem Geist eine zentrale Stellung eingeräumt. Der Relativismus hingegen reduziert die menschliche Erkenntnis auf die Stufe der Sinneswahrnehmung, so bereits die Kritik Platons an dieser Betrachtung, die es schon zu seiner Zeit gab. Heute kennzeichnen eine geistige Haltung des Relativismus und Subjektivismus großer Teile der Gesellschaft.
Die vorliegende Untersuchung [Bexten, Raphael E. Was ist menschliches Personsein? Der Mensch im Spannungsfeld von Personvergessenheit und unverlierbarer ontologischer Würde. Berlin, 2017], mit der der Verfasser 2017 promoviert wurde, befasst sich nun mit der Frage nach dem Sein der menschlichen Person. Diese Frage, die zu den großen Fragen der Menschheit gehört, wird in der Arbeit neu gestellt und in lückenloser Beweisführung begründet. In einer Zeit, in der die naturalistische Weltanschauung als nicht hinterfragbare Wahrheit gilt, ist eine solche Untersuchung von grundlegender Bedeutung und von besonderem Wert.
Fundiert setzt sich der Autor, der in der Denktradition Robert Spaemanns steht, mit möglichen Einwänden auseinander, die von Seiten eines empirisch-naturalistischen Personverständnisses gegen ein Substanzsein der Person erhoben werden. Einwände, die sich bei näherem Hinsehen als nicht überzeugend erweisen.
Die Untersuchung beginnt mit der Frage nach dem adäquaten Personbegriff. Wie lässt sich ein solcher Begriff bestimmen? Die Frage nach dem adäquaten Personbegriff wirft auch die Frage auf, ob es so etwas wie objektive Begriffe geben kann, ein von allen vernunftbegabten Menschen zu teilendes Begriffsverständnis. Hieran schließt sich die Frage nach dem Sein des Begriffs selbst an. Mit dem rein naturwissenschaftlich-empirischen und dem ontologischen Personverständnis stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen vom Menschen und seiner Würde gegenüber. Die Frage, welcher Personbegriff vertreten wird, ist dabei abhängig von der zugrunde liegenden Weltanschauung.
Die Rezensentin erinnert sich dabei an die auch in der Rechtswissenschaft bekannte Vorstellung von Begriffen in ihrer ursprünglichen Seinsform. Rechtsinstitute, Rechtsbegriffe wie die z.B. Anfechtung – im Juristenhimmel Rudolph von Jehrings werden sie uns in ihrem reinen Wesen begegnen. Eine also auch in anderen Disziplinen bekannte Vorstellung.
Das Adjektiv „adäquat“ verweist darauf, dass „Begriff“ nicht etwas rein Subjektives ist. Objektiv zu verstehende Begriffe sind Träger ihrer Wahrheit. Der Begriff als ein geistig-ideelles Seiendes, aber damit ein Seiendes. Der adäquate Begriff ist auch dadurch definiert, dass er eindeutig auf ein bestimmtes reales Ding, ein reales Wesen ausgerichtet ist (und dieses in seinem Sosein beschreibt). Der empirisch-funktionale Personbegriff ist deshalb nicht adäquat, weil er das Wesen der Person nicht erfasst, sondern reduziert. Weil er sich in Selbst-Widersprüche verwickelt.
Menschliches Personsein kann keine bloße zeitliche Phase sein. Damit ist allerdings nur ausgesagt, was Personsein nicht ist. Ein Beweis für das Substanzsein ist damit noch nicht erbracht. Bexten nimmt an jeder Stelle seiner Argumentation die notwendigen Differenzierungen vor und zieht keine unberechtigten oder voreiligen Schlussfolgerungen. Die Vorstellung eines durch das Bewusstsein konstituierten Personseins ist deshalb nicht überzeugend, weil Bewusstsein eines Trägers bedarf. Die Person, die über die aktuelle Möglichkeit zu Personverhalten verfügt, die Bewusstsein und Erinnerungsfähigkeit besitzt, erinnert sich. Erinnerung ist nicht denkbar ohne den Rückbezug auf ein Subjekt, das sich erinnert. Die Erinnerungsfähigkeit kann damit nicht mit der Person gleichgesetzt werden. Sie ist, wie bereits der Begriff deutlich macht, eine Ausprägung des Personseins. Denn Fähigkeit setzt ein Subjekt voraus, das über die Fähigkeit verfügt. Personverhalten ist nicht Bedingung für Personsein, sondern umgekehrt. Sein ist umfassender als Verhalten. Mit diesen Überlegungen kann deutlich gemacht werden, dass der klassisch-metaphysische Personbegriff überzeugender ist.
Der empiristische Reduktionismus negiert nicht nur die Alltagserfahrung, sondern steht ebenso im Widerspruch zu anderen empiristischen Erfahrungen. Das cogito ergo sum als das einzig Gesicherte, woran sich der Mensch selbst erkennen könne, ist selbst nur denkbar durch das geistig-substantielle Sein der Person. Eine Erkenntnis setzt einen erkennenden Geist als reales Sein voraus. Das, was die menschliche Wirklichkeit ausmacht, kann auch anhand des Phänomens der personalen Liebe erkannt werden. Die nicht adäquaten, weil der Wirklichkeit nicht entsprechenden und deshalb auszuscheidenden Personbegriffe erweisen sich als ausschließliche Konstrukte des menschlichen Geistes.
Im Hauptteil seiner Arbeit wendet sich Bexten vertieft der Frage zu, was Personsein bedeutet. Seine Erkenntnisse überschneiden sich mit den Überlegungen Johannes Pauls II. zu dieser Frage, die insbesondere in seiner philosophischen Untersuchung „Liebe und Verantwortung“ grundgelegt sind.
Der Begriff Person macht deutlich, dass der Mensch mehr ist als nur ein Einzelexemplar einer bestimmten Gattung. „Jemand“ zu sein ist, was den Menschen von allen anderen Wesenheiten unterscheidet. Für Johannes Paul steht sogar fest, dass der Begriff „Person“ aus diesem Grunde geprägt wurde. Er bringt zum Ausdruck, „dass es mehr an ihm gibt – einen besonderen Reichtum und eine Vollkommenheit in der Weise seines Seins“. Und dies alles könne nur durch den Gebrauch des Wortes „Person“ zum Ausdruck gebracht werden.
Das, was den Menschen von seinen Mitgeschöpfen zunächst unterscheidet, ist seine Vernunftfähigkeit. Die Person als ein individuelles Seiendes mit einer vernünftigen Natur (individua substantia rationalis naturae – die berühmte Definition des Boethius). Die Person unterscheidet sich von den am meisten fortgeschrittenen Tieren durch ihre Innerlichkeit. Dies ist kein philosophischer Begriff, aber ein sehr treffender. Auch in den Tieren laufen physiologische Prozesse ab, die denen der Menschen sogar ähnlich sind. Und trotzdem ist an dieser Stelle eine wesenhafte Unterscheidung vorzunehmen. Beim Menschen bedeutet inneres Leben immer geistiges Leben. Der Mensch ist, schreibt Johannes Paul, gerade aufgrund seines inneren Daseins, seines inneren Lebens eine Person. Ein weiteres Kennzeichen der Person, das ihre Einzigartigkeit beschreibt, ist ihre Möglichkeit, mit der unsichtbaren Welt und mit Gott in Verbindung zu treten. Bexten spricht hier von der ontologischen Transzendenzfähigkeit der menschlichen Person.
Am Beispiel der ehelichen Liebe zwischen Mann und Frau zeigt sich eine Ausprägung des Personseins, die in besonderer Weise Ausdruck der Innerlichkeit der Person ist und das auf Transzendenz angelegte Wesen des Menschen sichtbar macht. Die gegenseitige Selbsthingabe in der Liebe, die Identität der Person und das Einswerden in der Liebe schließen sich nicht aus. Wahre Liebe umfasst immer die ganze Person, bedeutet Annahme der Person in ihrem Sosein. Die personale Liebe stellt eine der vollkommensten Formen interpersonaler Beziehung dar. Ein weiteres Wesensmerkmal der Liebe ist ihre Verbindung mit dem Absoluten, mit der absoluten Liebe Gottes, die ihre Herkunft und Quelle ist. Dieser Dimension können sich die Liebenden auch bewusst sein. Sie ist bei einer wahren Liebe gegenwärtig.
Da die Liebe ihren Ausgangspunkt in der Wahrheit über eine andere Person, wie der spätere Papst Johannes Paul II. in „Liebe und Verantwortung“ schreibt , ist sie weit mehr als eine Emotion oder gar eine bloße Erregung der Sinne. Liebe durchdringt das ganze Sein der Person, die Seele. Liebe ist nicht allein auf den Leib hin ausgerichtet, auch nicht nur auf einen Menschen des jeweils anderen Geschlechts, sondern auf eine Person. Gerade hier wird die Unterscheidung zwischen Mensch und Person relevant. Die rein emotionale Liebe richtet sich nur auf den Menschen des anderen Geschlechts. Sie hat damit ihr wahres Wesen noch nicht erreicht, wenn sie die Person nicht umfasst. Liebe ist nur dann Liebe, wenn sie sich auf die Person richtet.
An diesen Überlegungen wird deutlich, dass ein reduktionistisches Personverständnis, wie es dem empirisch-funktionalisitschen Personbegriff zugrunde liegt, der Wirklichkeit der Person nicht gerecht werden kann. Es zeigt sich hier ein Phänomen, das Bexten als Personvergessenheit beschreibt und dem er einen wesentlichen Teil seiner Untersuchung widmet. Der Vorwurf der Personvergessenheit ist den Vertretern des Empirismus gerade deshalb zu machen, weil sie den Menschen rein biologisch sehen. Die Spezies wird in dieser rein biologischen Betrachtung zum Surrogat für die Person. Das ontologische Wesensverständnis gerät dagegen aus dem Blick. Es trifft eben gerade der Vorwurf nicht zu, dass von den Vertretern des substanzontologischen Personbegriffs der Mensch aufgrund einer rein biologischen Betrachtung als Person angesehen wird.
Der Einwand des Biologismus geht von vornherein ins Leere, weil nicht die alleinige Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung Grund für die Menschenwürde ist. Niemand vertritt das. Gerade diejenigen, die selbst ein materialistisches Weltbild vertreten, erheben den Vorwurf des Biologismus, was auf der anderen Seite sogar wieder stimmig ist, die rein materialistische Betrachtung kann zu dem Fehlschluss verleiten, dass ein ungeborenes Kind im ersten Stadium seiner Entwicklung ein „Weniger“ ist.
Unzweifelhaft ist mit der Entwicklung der Fähigkeit zum Vernunftgebrauch und zur Betätigung des freien Willens eine neue Dimension menschlichen Personseins erreicht. Dieses Faktum lässt jedoch keine Rückschlüsse auf fehlendes Personsein zu einem früheren Zeitpunkt zu. Mit dem aktualisierten Personverhalten entfaltet sich das Wesen des Menschen, das in seinem Sein immer schon grundgelegt war (aktive Potenz). Die Arbeit veranschaulicht die zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen der Person bestehende Grundbeziehung, die für eine sachgerechte Diskussion so entscheidend ist, an einem Schaubild, anhand dessen die Zusammenhänge einprägsam deutlich werden. Das menschliche Personsein, definiert als geistiges Substanzsein im Leib, ist die allem zugrunde liegende Kategorie. Die bildliche Darstellung veranschaulicht auch, dass die Annahme des empiristischen Personverständnisses, die zwischen biologisch-menschlichem und personalem-menschlichen Leben unterscheiden will, falsch ist. Weil auch der Dimension des noch nicht bewussten Personseins die Grundwirklichkeitsform des Menschen immer vorausliegt.
Zu dem aktualisierten Personverhalten – in der Terminologie der Übersicht des Autors der zweiten Dimension – gehören das Offensein für andere und die Transzendenzfähigkeit. Auch die Fähigkeit zu moralischem Handeln. Hiermit sind Bereiche angesprochen, die sich einer rein materialistischen Betrachtung entziehen. Mit dem aktualisierten Personverhalten geht die zweite Dimension in die dritte Dimension unmittelbar über.
Dimension 2 in der Terminologie des Schaubildes, die Phase des bewussten Personseins, setzt das geistige Substanzsein im Leib voraus. Die zweite Dimension menschlichen Personseins geht in die dritte Dimension über. Auf dieser dritten Ebene hat der Mensch die Möglichkeit, das Personsein zu seiner menschlichen Vollendung zu führen (oder dieses Ziel auch zu verfehlen). Dies ist nur möglich, weil der Mensch die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz besitzt. Das, was in der dritten Dimension geschieht, ist die Verwirklichung dessen, wozu der Mensch in der zweiten Dimension aktuell fähig wird. Die Unterscheidung ist wichtig: Es geht hier, im Unterschied zu der (einen) Grundwirklichkeitsform menschlichen Personseins, nicht um den ontologischen Wert der Person – dieser ist in allen Dimensionen gleich und unabhängig von dem Gelingen der persönlichen Vervollkommnung – sondern allein um die qualitativen Werte, die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Unterscheidung zwischen sittlich guter und sittlich schlechter Persönlichkeit hat hier ihren Platz. Warum wird innerhalb der dritten Dimension die Frage nach dem sittlich guten Handeln relevant? Hier kommt zum Tragen, dass der Mensch „ens morale“ ist, dass er aufgrund seiner Freiheit, die er als Person besitzt, in der Lage ist, sich zwischen guten und schlechten Handlungen zu entscheiden, letztlich eine Wahl zu treffen zwischen Gut und Böse, und für seine Handlung deshalb auch verantwortlich ist. Auch im intellektuellen Bereich hat der Mensch einen Spielraum, den er zum Guten oder zum Schlechten nutzen kann. Je nachdem kann ein höherer oder niedrigerer Grad an Vervollkommnung erreicht werden. Bexten spricht hier von der ontologisch wahren menschlichen Person, wenn die Person dem entspricht, was objektiv wahr, gut und schön ist. Die Person gibt mit ihrem Handeln immer auch Antwort auf die objektiven Werte. Das bedeutet Selbsttranszendenz, zu der die Person aufgrund ihres ontologischen Wesens fähig ist. Entscheidend – und daran ist erkennbar, dass Personsein etwas ganz anderes ist als Personverhalten – ist dabei, dass die Person, auch wenn ihr die qualitative Vervollkommnung nicht gelingt, immer ihren ontologischen Wert behält. In ihrem Handeln kann sie sich von der Personenwürde entfernen, niemals jedoch in einem ontologischen Sinn.
Personvergessenheit
Im letzten – und auch wichtigsten – Kapitel wird das Phänomen der Personvergessenheit philosophisch untersucht. Mit Personvergessenheit ist nicht etwa gemeint, dass der Begriff der Person in Vergessenheit geraten ist. Im Gegenteil nimmt er heute im Menschenrechtsdiskurs eine zentrale Rolle ein. Aber das Wissen um das, was die Person ontologisch ausmacht, ist oft nicht mehr vorhanden. Die Folge aus der Personvergessenheit ist ein inadäquates Verständnis, sind inadäquate Einstellungen und Grundhaltungen. Ein reduktionistisches Verständnis führt zu falschen Ergebnissen. Personvergessenheit ist nach Bexten die dekadenteste Form der Seinsvergessenheit.
Wie kommt die Personvergessenheit zum Ausdruck? Die Person wird vergessen oder fehlinterpretiert, nicht in ihrer Ganzheit gesehen, in ihrem Wesen verkannt, nur noch in ihrer materiell-biologischen Dimension wahrgenommen. Wenn etwa die Geistigkeit des Menschen allein auf sein Gehirn zurückgeführt wird, so liegt ein Reduktionismus vor. Die Existenz des eigentlichen, ursächlichen Phänomens gerät dabei aus dem Blick, während etwas Nicht-Ursächliches in den Mittelpunkt rückt. Der Begriff der Personvergessenheit impliziert, dass die Person existiert. Hieraus erklärt sich der Begriff des latenten Phänomens, den Bexten hier gebraucht. Latent – verborgen – bezieht sich darauf, dass die Person in ihrer eigentlichen Bedeutung als verborgenes Phänomen existiert. Personvergessenheit lässt sich am besten beschreiben als ein Mangel am rechten Verständnis dessen, was menschliches Personsein ausmacht. Personvergessene Handlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie gegen die sog. personalistische Norm verstoßen. Die Geltung dieser Norm, die aus dem Personsein folgt, besagt, dass die Person um ihrer selbst willen zu bejahen/zu lieben ist. Aus dem objektiven Wert der Person ergibt sich die Forderung eines bestimmten Umgangs mit ihr.
Personvergessenes Handeln zeigt sich deshalb immer dann, wenn anderen Menschen ihr Personsein abgesprochen wird. Eine Person kann andere oder auch sich selbst in einer Weise behandeln, die dem ontologischen Wert der Person nicht entspricht. Ein Beispiel hierfür ist die Abtreibung, da das angenommene „Recht“ hierzu auf der fingierten Annahme gründet, es handele sich bei dem Embryo noch nicht um einen Menschen, sondern um eine biologische Vorstufe. Dieser Fehler hängt mit der reduzierenden materialistischen Betrachtung auf das engste zusammen. Als personvergessen erweist sich auch eine Haltung, mit der Menschen sich selbst als nicht wesensverschieden von Tieren wahrnehmen. Nicht nur Haltungen, auch Theorien, Personbegriffe, können personvergessen sein.
Bexten untersucht das Phänomen der Personvergessenheit innerhalb der jeweiligen Dimensionen seines Schaubildes. Bei Dimension 2 – der Ebene des aktuell ausgeübten bzw. aktualisierbaren Personverhaltens – bedeutet es, dass Personen, die nicht aktuell Personverhalten ausüben können, das Personsein abgesprochen wird. In der dritten Dimension, in der es um die Vervollkommnung der Person und Entfaltung der Persönlichkeit geht, zeigt es sich letztlich als Leugnung der Wahrheitsfähigkeit des Menschen und seiner Fähigkeit, sein Verhalten an dem sittlich Guten auszurichten. Die jeweiligen Ausprägungen der Personvergessenheit stellen einen inadäquaten Umgang mit der menschlichen Person dar. Sie werden, so Bexten, dem Menschen weder theoretisch noch praktisch gerecht. D.h. weder im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis noch im Hinblick auf konkrete Handlungen, die gegenüber Personen angemessen sind. Die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Person ist ein notwendigerweise zum erwachsenen Menschen gehörendes Vermögen (und wird heute oft geleugnet). Indem die Person ihrer Fähigkeit entsprechend sich auf diese Wahrheit hin ausrichtet, entspricht sie gleichzeitig ihrer eigenen ontologischen Wahrheit – oder verfehlt sie.
Warum ist es legitim, von einem Sosein der menschlichen Person auszugehen? Die Erkenntnis stellt in der Tradition der realistischen Phänomenologie eine Grundmethode der Philosophie, ein korrektes Mittel der philosophischen Erkenntnis dar. Die Einsicht als das geistige Verstehen führt zu wahren, allgemein-gültigen Urteilen. Mit der phänomenologischen Methode, die Husserl in den „Logischen Untersuchungen“ (1900/01) entwickelt hat, wird die Abkehr von dem Psychologismus und seiner vom Subjekt ausgehenden Wahrheitssuche vollzogen, der mit dem Empirismus das Denken im 19. Jahrhundert beherrscht hat. Der Psychologismus, der letztlich zum Relativismus und Nominalismus führen musste, unterscheidet nicht zwischen Urteilsakt – dem psychischen Vorgang – und dem Urteilsinhalt, der eine ontologische Wirklichkeit wiedergibt. Bexten deckt den Denkfehler auf, der in einer Gleichsetzung von Erkenntnis mit dem Bewusstsein der erkennenden Person besteht. Erkenntnis bedeutet (notwendigerweise), dass der erkennende Geist sich auf etwas, das zu Erkennende, richtet und damit sich selbst überschreitet. Das Erkannte kann deshalb kein Teil des erkennenden Subjekts sein. Der Psychologismus vermag hingegen nicht zu erkennen, dass mit dem nicht-psychischen Urteilsinhalt etwas gegeben ist, was über die Psychologie hinausweist. Weil das empirisch-funktionalistische Personverständnis kein Wesen kennt, kann die entscheidende Dimension des Personseins nicht mehr erfasst werden. Personsein kann aus dieser Perspektive letztlich nur als eine Ansammlung von Eigenschaften begriffen werden. Eigenschaften können aber nur Eigenschaften von jemandem sein, setzen damit Identität notwendigerweise voraus. Es ist das große Verdienst dieser Arbeit, dass sie all diese Widersprüche aufdeckt. Die reduktionistische Sichtweise des Psychologismus erweist sich als philosophischer Irrtum.
Die Person besitzt ein Wesen (Sosein), das durch geistige Reflexion in den Blick genommen und erkannt werden kann. Das Wesen der Person ist ein notwendiges Wesen, ein „So-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können“. Das, was Bexten ihre Grundwirklichkeitsform nennt, ist das geistige Substanzsein im Leib. Diese Beschreibungen der Person sind von Anfang an ihrer Existenz gegeben. Menschliches Leben bedeutet immer und in jeder Phase Personsein.
Die empiristische Haltung wähnt sich überlegen. Die entscheidende Frage, auf welche die Untersuchung mit Antwort gibt, ob der Embryo, ja, ob bereits die befruchtete Eizelle Person ist, kann jedoch nicht rein empirisch beantwortet werden. Daraus meinen die Vertreter der empiristischen Haltung den Schluss ziehen zu können, dass der Embryo zwar lebe, aber nicht Person sei. Weil der Empirismus die Frage nach dem Personsein jedoch gerade nicht beantworten kann, kann er mögliche Antworten, die von einem Personsein ausgehen, andererseits auch nicht ausschließen. Hier liegt, wie Bexten einwendet, ein epistemologisches Defizit vor. Redlicherweise wäre deshalb anzunehmen, dass der Embryo jedenfalls möglicherweise eine menschliche Person sei und deshalb nicht getötet werden dürfe.
Es gibt kein potentielles Personsein. Potenz setzt Existenz voraus. Die Aussage, dass der Embryo menschliche Person und nicht potentielle Person ist, wird verständlich, wenn die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Potenz in den Blick genommen wird. Unter der aktiven Potenz versteht man den „wesenseigentümlichen Entwicklungshang“, also die Möglichkeit eines Seienden, aus sich selbst heraus, ohne äußeres Zutun, etwas zu werden, was es bislang noch nicht ist. Im Unterschied hierzu meint passive Potenz das, was sich mit einem Seienden durch äußeren Einfluss ereignet. Der Schnee besitzt die passive Potenz, zum Schneemann geformt zu werden. Das Werden der Person ist die Folge, das Ergebnis des Wesens, nicht umgekehrt. Werden geschieht nicht aus Zufall heraus, sondern aus der Zweckbestimmung, die in dem Sein schon enthalten ist. Nicht allein der Faktor Zeit macht aus dem Embryo ein geborenes Kind, es bedarf hierfür einer ontologischen Grundlage, die in der aktiven Potenz gesehen werden kann. Nur wenn es ein zugrundeliegendes Sein gibt, kann sich etwas wandeln und weiterentwickeln. Das selbst unwandelbare Sein ist hierfür notwendige Voraussetzung.
In einer sehr klaren, präzisen Sprache geschrieben, ist dieses Buch auch für Nicht-Philosophen verständlich. Denn komplizierte philosophische Zusammenhänge werden in klare Gedankenschritte zerlegt und nach logischen Sinnzusammenhängen aufgeschlüsselt. Ausführliche Zitate bekannter Philosophen und aus der Literatur ergänzen sehr schön die eigene Argumentation des Autors und tragen zum Verständnis bei (auch das eigene Nachschlagen wird einem erspart). Tiefgreifender kann man nicht argumentieren. Die Philosophie, die nach Aristoteles Wissenschaft der Wahrheit ist, wird bei Bexten diesem Anspruch gerecht.
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