von Raphael E. Bexten

Zusammenfassung

Im Aufsatz wird einerseits die These verteidigt, dass Spaemanns Personbegriff ein substanzontologisch-relationaler Würdebegriff ist und andererseits dafür argumentiert, dass der substanzontologisch-relationale Personbegriff dem adäquaten Personbegriff entspricht. Im Rückgriff auf Boëthius wird herausgearbeitet, was menschliches Personsein ist. Hierzu werden verschiedene Naturdefinitionen besprochen und das Verhältnis von Natur und geistigem Zugrundeliegenden bestimmt. Eingebettet und abgerundet werden die Ausführungen durch eine Theorie über die menschliche Person, die die relevanten Erkenntnisse integriert und synoptisch veranschaulicht.

Raphael E. Bexten (2017) „Person und Natur bei Robert Spaemann und an sich“ In: Forum Katholische Theologie 2/2017.  33. Jahrgang. http://www.webcitation.org/6rksQob2G. S. 98–112.

Abstract

Person and nature as basic philosophical concepts and in the philosophy of Robert Spaemann

On the one hand this essay defends the thesis that Spaemann’s concept of personality is a substantive-rational concept of human dignity and, on the other hand, it argues that the substantive-onto-relational concept of personality corresponds to the adequate concept of the person. Recourse to Boëthius is used to define the basic structure of human existence. For this purpose, various definitions of nature are discussed as well as the relationship between nature and an underlying basic spriritual element. The essay should be understood within the context of a theory of the human person which implies relevant findings and at the same time demonstrates them in a synoptic way.

1.  Einführendes

Was ist der Mensch? Diese Frage stellt Kant und vor ihm der Psalm acht in der Bibel.[i] Die Frage nach dem Sein des Menschen bzw. der menschlichen Person kann als eine Ur- und Grundfrage der gesamten Philosophie begriffen werden. Max Scheler ist zuzustimmen, wenn er meint: „[i]n einem gewissen Verstande lassen sich alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen, was der Mensch sei“.[ii] Es darf also nicht verwundern, wenn ein Antwortversuch auf diese Urfrage der Philosophie skizzenhaft und kontrovers ist.

Der zureichende Grund für die philosophischen Kontroversen um das rechte Verständnis des Menschen und der menschlichen Person, sind nicht abstrakte Begriffsstreitigkeiten, sondern grundverschiedene, einander kontradiktorisch widersprechende, ontologische bzw. metaphysische, also weltanschauliche Auffassungen der Wirklichkeit als solcher, die im jeweiligen Personbegriff konnotiert werden. Insbesondere kreist die Kontroverse um die Frage, ob die naturalistische bzw. empirisch-funktionalistische Weltanschauung, in der z. B. das Sein als Werden bzw. Widerspruchseinheit begriffen werden kann, oder die realistisch-substanzontologische Wirklichkeitsauffassung die adäquate Anschauung sei. Letztere Auffassung soll hier vertreten werden. Mit Thomas Nagel, Robert Spaemann et al. wird hier also die These skizzenhaft verteidigt, dass die „materialistische neodarwinistische [also evolutionistische] Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“,[iii] da sie u. a. dem Phänomenen, wie dem rationalen Leben bzw. dem rationalen menschlichen Geist und damit dem Sein der menschlichen Person nicht gerecht werden kann, ohne diese reduktionistisch um- bzw. wegzuinterpretieren. Dies hängt mit dem szientistisch-naturalistischen Verständnis der Wirklichkeit zusammen, das u. a. auf einer nihilistisch-reduktionistischen Seinsauffassung fußt.

1.1. ‘Mensch’ – ein äquivoker Ausdruck

Mit Scheler ist es relevant auf den Sachverhalt aufmerksam zu machen, dass mit dem Wort Mensch zweierlei gemeint sein kann: 1. gemäß dem alltäglichen Sprachgebrauch, der „Wesensbegriff des Menschen“, also die geistige menschliche Person, etwa in Differenzierung zum Tier.[iv] 2. gemäß der biologischen Taxonomie der „natursystematische Begriff“[v] des Menschen als Mitglied der biologischen Spezies Homo sapiens.

Mangelt es an dieser notwendigen Bedeutungsunterscheidung, kommt es höchstwahrscheinlich zu paralogistischen Äquivokationen, die eine weitere kohärente und konsistente Argumentation verunmöglichen.

1.2. Zum Verhältnis von Person- und Menschenbegriff und vice versa

Es ist nun vorab thematisch notwendig, die in Abb. 1 dargestellten fünf möglichen basalen Relationen (bR1-bR5) des Personbegriffs zum Menschenbegriff und vice versa zu unterscheiden.[vi] Im Artikel wird auf diese Abb. weiter Bezug genommen.

Abbildung 1: Alle fünf möglichen basalen Relationen (bR1-bR5) des Personbegriffs zum Menschenbegriff und vice versa (Die schraffierte Fläche der Venn-Diagramme symbolisiert eine leere Menge ∅. Das × seht hier für einige Exemplare der bezeichneten Menge bzw. Mengen. Das eingekreiste × schließt die Existenz der entsprechenden Exemplare mit ein. M = Mensch & P = Person) Diese Grafik findet sich mutatis mutandis bei Erk.[vii] Erk veranschaulicht die Beziehungen durch Eulerdiagramme und bestimmt auf systematischem Weg, z. B. mittels Wahrheitstabellen etc. die oben abgebildeten basalen Grundbeziehungen der Menge der Personen zur Menge der Menschen und vice versa

1.3. Drei basale Personbegriffe im Verhältnis zueinander

Im Rückgriff auf eine Exzerption der relevanten Literatur können folgende drei Personbegriffe als basal angesehen werden (C. Erk): der relationale Personbegriff; der empirisch-funktionalistische (aktualistische) Personbegriff und der substanzontologischen Personbegriff. Abb. 2 stellt diese drei basalen Personbegriffe im Verhältnis zueinander dar. Im Artikel wird auf diese Abb. weiter Bezug genommen.

1.4. Personsein und Personverhalten

Es ist ferner thematisch relevant, zwischen Personsein und Personverhalten zu unterscheiden, die hier verteidigten Theorien werden durch Abb. 3 und Abb. 4. wiedergegeben.

2. Spaemanns Personbegriff

Robert Spaemanns Personbegriff ist mit der basalen Relation zwei (bR2; Vgl. Abb. 1) identisch, da seiner Meinung nach nicht alle Personen Menschen sein müssen, wohl aber alle Menschen Personen sind. Spaemanns Personbegriff kann als substanzontologisch-relationaler bezeichnet werden (Vgl. Abb. 2, Fläche 7). Spaemanns substanzontologisch-relationaler Personbegriff stimmt mit dem in diesem Aufsatz als adäquat verteidigten Personbegriff überein, er kann folgenderweise zusammengefasst werden: Der Mensch ist „wesentlich Person“,[viii] d. h. zum Menschsein gehört es, Person zu sein. Es gibt somit keine potentiellen Personen, also menschliche Wesen, die noch nicht oder nicht mehr menschliche Personen sind. Dies wird durch Abb. 4. (Vgl. Quadrat links oben) und Abb. 3 deutlich. Der lebende Mensch ist Person von Anfang an, da nicht etwas jemand werden kann.

Abbildung 2: Drei basale Personbegriffe im Verhältnis zueinander – Die nummerierten Schnittflächen des Venn-Diagramms bezeichnen in unscharfer Weise, ausschließlich mittels positiver Hervorhebung, gewisse Gemeinsamkeiten, die aber durch den jeweiligen basalen Personbegriff unterschiedlich ontologisch begründet werden. Außerdem sind den verschiedenen basalen Personbegriffen die in Abb. 1 dargestellten und erklärten basalen Relationen (bR) zwischen Menschen- und Personbegriff und vice versa zugeordnet. (v steht für: ausschließendes Oder; v steht für: nicht-ausschließendes Oder) Die Unterteilung der Personbegriffe in diese drei basalen ist mit leichten Veränderungen von Erk übernommen[ix]

Der Erkenntnisgrund hierfür ist der normale erwachsene Mensch mit aktualem Personverhalten bzw. der überaktuellen Fähigkeit, Personverhalten zu aktuieren (Vgl. Abb. 4 Quadrat rechts oben & Quadrat links unten). Deshalb schreibt Spaemann: „Es ist für die menschliche Natur wesentlich, daß sie von einer Person, also von jemanden gehabt wird.“[x] D. h. es gibt keinen Menschen, dessen menschliche Natur nicht von einem geistigen Zugrundeliegenden (also einer geistigen Substanz) in einem Leib ontologisch besessen wird. Es kommt also nicht darauf an, ob der Menschen schon innerhalb seiner ontogenetischen Entwicklung die Fähigkeit besitzt, Personverhalten aktuell resp. überaktuell zu aktuieren, sondern auf den Sachverhalt, dass die vernünftige (im Sinn der aktiven Potenz; Vgl. Abb. 4 – Quadrat links oben) menschliche Natur von einem geistigen Zugrundeliegenden getragen wird. Es ist folglich klar, dass insofern der Mensch lebt, er auch immer wirkliches Personsein besitzt.[xi] Dass dies eine korrekte Zusammenfassung des spaemann’schen Personbegriffs ist, kann anhand folgender Zitaten verdeutlicht werden. Spaemann schreibt:

„Was ein Mensch von seinem Wesen her ist, zeigt sich an einem normalen erwachsenen Menschen. An ihm sehen wir, daß der Mensch jemand, daß er wesentlich Person ist. So gibt es keinen Grund, nicht auch diejenigen als Personen zu betrachten und mit ihnen als Personen umzugehen, die die gleiche Natur aber in einer noch unentwickelten oder einer defekten Form besitzen. Personsein ist ja nicht eine qualitative Bestimmtheit, sondern die Person ist derjenige, der solche Bestimmtheit hat. Es ist für die menschliche Natur wesentlich, daß sie von einer Person, also von jemanden gehabt wird.[xii] […] Personen sind Subjekte des Könnens. Es hat auch keinen Sinn, von ‘potentiellen Personen’ zu sprechen. Personen sind nie potentiell.[xiii] Sie sind immer wirklich. Personalität entwickelt sich auch nicht, sondern Personaliät ist das, was einer bestimmten menschlichen Entwicklung ihren spezifischen Charakter gibt“.[xiv]

Abbildung 3: Die eine menschliche Person: Menschliches Personsein und menschliches Personverhalten im Verhältnis zueinander – Diese Auffassung wird in diesem Artikel als die adäquate verteidigt und entspricht dem substanzontologisch-relationalen Personbegriff – Personsein ist, entgegen der Meinung des Aktualismus, mehr als eine aktuelle Fähigkeit oder das überaktuelle Vermögen, bestimmte Fähigkeiten zu verwirklichen – Die relevanten biologischen Sachverhalte der Ontogenese des Menschen werden z. B. bei Rager[xv] besprochen und philosophisch interpretiert – Die schraffierte Fläche des Venn-Diagramms ist leer – Die Unterscheidung zwischen Personsein und Personverhalten findet sich u. a. bei Schwarz[xvi]

3. ‘Person’ als Würdebegriff

Es kann mit Spaemann argumentiert werden, dass „Würde […] keine empirisch gegebene Eigenschaft“[xvii] ist. Vielmehr ist Spaemann zuzustimmen, das Würde, ein Urphänomen ist, also etwas, das für den menschlichen Geist etwas Letztes – Unhintergehbares ist, welches nur als eben solches erkannt und anerkannt oder geleugnet bzw. uminterpretiert werden kann.[xviii] Sie ist auch nicht durch etwas rein Biologisches, wie die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies Homo sapiens begründet, denn rein naturwissenschaftlich betrachtet unterscheidet sich die biologische Spezies Homo sapiens nicht wesentlich (qualitativ) von anderen biologischen Spezies, denen aufgrund von fehlenden Indizien (z. B. fehlende geistige (z. B. semiotische) Leistungen, die mit denen der menschlichen Person vergleichbar sind) keine rationale Natur und damit auch keine ontologisch unverlierbare Würde zugeschrieben wird.

Wäre also der Naturalismus[xix] die adäquate Anschauung der Wirklichkeit, so würde Peter Singers Speziesismusvorwurf berechtigt sein.[xx] Es gibt aber, so kann mit Spaemann argumentiert werden, nicht nur das rein empirisch Wahrnehmbare.

Abbildung 4: Verschiedene Modi des Personverhaltens – Die Pfeile symbolisieren die Möglichkeit des Werdens: So kann z. B. aus dem Seienden, das Personverhalten erwerben kann, also die aktive Potenz zum Personverhalten besitzt, durch die verwirklichende Kraft einer Form bzw. eines Aktes ein Seiendes werden, das ontologisch die Fähigkeit zum Personverhalten besitzt, d. h. Personverhalten aktualisieren kann – Diese Abb. ist inhaltlich und der grafischen Idee nach in leicht modifizierte Form von Erks Abb. 33[xxi] übernommen worden

Der zureichende ontologische Grund für die unverlierbare Würde des Menschen, durch den die fundamentalen Menschenrechte begründet werden, ist seine Grundwirklichkeitsform, sein geistiges Personsein in einem Leib (Vgl. Abb. 3 & Abb. 5), bzw. sein personales Selbst, dass eine vernünftige Natur hat.

Abbildung 5: Eine Grundwirklichkeitsform menschlichen Personseins mit drei Dimensionen – Diese Darstellung basiert auf dem – hier thesenhaft – als adäquat vertretenen substanzontologisch-relationalen Personbegriff

Es kann aber, mit Spaemann gesprochen, durch die „biologischen Zugehörigkeit zu einer Familie von Freien [Personen]“[xxii] auf das Personsein der betreffenden Individuen geschlossen werden:

„Es kommt deshalb nicht darauf an, ob das einzelne Familienmitglied schon, noch oder überhaupt die Eigenschaften besitzt, die uns veranlassen, von Personen zu sprechen, die phänomenal so etwas wie Würde zur Erscheinung bringen.“[xxiii]

Nun wird auch begründbar, warum z. B., wie auch Spaemann ausführt, der „Kannibale von Rotenburg“ gegen die unverlierbare objektive Würde des ermordeten Menschen verstoßen hat und deswegen schuldig geworden ist, auch wenn er mit der Tat den Wunsch des ermordeten Menschen erfüllt hat.[xxiv] Die Verurteilung und Bestrafung des „Kannibalen von Rotenburg“ wegen Mordes durch den Staat, so kann mit Spaemann weiter ausgeführt werden, setzt in der juristischen und philosophischen Begründung der Bestrafung bzw. des Urteils „so etwas wie eine Natur des Menschen“[xxv] voraus. Die postulierte menschliche Natur dient hier somit als Maßstab, anhand dessen die Wünsche evaluiert werden können und das Gericht feststellen kann, dass „die Menschenwürde trotz Zustimmung angetastet wird.“[xxvi] Abschließend kann mit Spaemann darauf hingewiesen werden, dass „[o]hne den Begriff des Normalen […] wir nicht auf die Frage antworten [können], warum denn das Interesse des Kindes Vorrang haben soll gegenüber dem Interesse des Pädophilen.“[xxvii]

Der Mensch bzw. die menschliche Person besitzt also einen objektiven unverlierbaren ontologischen Wert (eine In-sich-selbst-Bedeutsamkeit) / eine objektive unverlierbare ontologische Würde. Dies ist der ontologisch zureichende Grund für die Normativität menschlichen Lebens. D. h. es besteht gemäß dieser hier vertretenen Auffassung keine totale Dichotomie zwischen Sein und Sollen. Ein vollkommen wertfreies Sein oder eine vollkommen wertfreie Natur gibt es nicht, da es auch bestimmtes in-sich-selbst-bedeutsames Seiendes (Seiendes, das einen objektiven Wert besitzt), wie z. B. den lebenden Menschen gibt. Folglich ist der sog. Sein-Sollens-Fehlschluss kein Fehlschluss.[xxviii] Überdies beruht G. E. Moores Argument der offenen Frage bzw. sein sog. Naturalistischer Fehlschluss selbst auf einer Petitio principii, da es den Beweisgrund selbst in Anspruch nimmt. Dies hat W. Frankena 1939 gezeigt.[xxix]

Menschliches Personsein wird durch das Urphänomen ‘rationales Leben’ konstituiert, d. h. menschliches Personsein ist auch dann vorhanden, wenn das „unbewusste“ rationale Leben nur, wie beim menschlichen Embryo oder dem sog. Hirntoten[xxx]nur als aktive Potenz (Vgl.Abb. 4, Quadrat links oben) vorliegt.[xxxi]

Es soll somit auf das menschliche Personsein bzw. auf die menschliche Person durch andere Menschen eine adäquate Wertantwort gegeben werden. Diese kann als Antwort auf die „Personalistische Norm“ bezeichnet werden. Die Personalistische Norm besagt: „Die Person ist um ihrer selbst willen zu bejahen bzw. zu lieben.“

4.    Zur Natur der menschlichen Person

Im Rückgriff auf Spaemann ist darauf hinzuweisen, dass „Natur“ (φύσις) ein äquivoker Terminus ist.[xxxii] Es gilt also, einige Grundbedeutungen von „Natur“ zu unterscheiden.

Mit Aristoteles kann der Mensch bzw. die menschliche Person als ζῷον λόγον ἔχον (animal rationale) wesensmäßig bestimmt werden (d.h. natürlich nicht, dass Aristoteles schon die moderne Personauffassung besaß). Mit Spaemann gesprochen, ist also das Haben einer vernünftigen Natur[xxxiii] die diferentia specifica, die den Menschen von anderen unvernünftigen, sinnlich-empfindsamen Substanzen abgrenzend bestimmt. D. h. die menschliche Person erhebt sich durch das bewusste Haben ihrer eigenen Natur über alles andere Seiende, das in diesem Sinn seine eigene Natur nicht hat.

Spaemanns Persondefinition greift somit auf die klassische Persondefinition Boëthius zurück. Er definiert die Person als „naturae rationabilis individua substantia“,[xxxiv] also als „[e]iner verständigen Natur unteilbare Substanz“.[xxxv]

Um besser zu verstehen, was Boëthius mit seiner Personendefinition meint, sollten u. a. folgende verschiedene Grundbedeutungen von Natur (φύσις)[xxxvi] unterschieden werden: Die erste Bedeutungsbestimmung von Natur ist zum allgemeinen Begriff des Wesens[xxxvii] (des Soseins von etwas) bedeutungsäquivalent.[xxxviii] Boëthius schreibt dementsprechend: „‘Natur haben die Dinge, die auf gewisse Weise von der Vernunft erfaßt werden können, weil sie sind’“.[xxxix] Dieser Natur- / Wesensbegriff ist also ein transzendentaler Begriff, der für jeden möglichen Seinsmodus gilt. Aufgrund dieses Sachverhaltes ist er für eine Wesensdefinition der menschlichen Person ungeeignet, da er nicht die Wesenscharakteristika der Person zu bezeichnen vermag. Dieser transzendentale Natur- resp. Wesensbegriff differenziert nicht zwischen den beiden Urphänomenen der Wirklichkeit, den Selbststand-Seienden und den Nicht-Selbstand-Seienden. Boëthius sucht deshalb weitere mögliche Bedeutungen des Wortes „Natur“ und grenzt es durch folgenden Definitionsversuch auf die Substanzen eine: „‘Natur ist, was tätig sein kann oder was erleiden kann’“.[xl] Dieser Naturbegriff gilt nur von Selbststand-Seiendem, da nur Seiendes, das in-sich-steht, tätig sein kann oder etwas erleiden kann. Zwar kann auch das akzidentelle Seiende (oder auch andere nicht-substantielle Seinsformen) etwas erleiden, z. B. wenn die Haarfarbe eines älter-werdenden Menschen zunehmend grauer wird, doch nur insofern sie einem Selbststand-Seienden innewohnt. Der letzte Definitionsversuch von Natur kann somit als Hinführung zu folgender boëthianischen Naturdefinition verstanden werden, die sich nur auf körperliche Substanzen bezieht: „‘Natur ist Prinzip der Bewegung aus sich heraus, nicht beiläufig’“[xli] Gemäß dieser Naturdefinition ist also die Natur das „principium quo“, also das Prinzip, wodurch etwas geschieht. Mit Hilfe dieses Naturverständnisses wird nun auch die boëthianische Persondefinition[xlii] verständlicher. Wenn die Person, mit Boëthius gesprochen, „‘einer verständigen Natur unteilbare Substanz’“ ist, so sind hierdurch sowohl das genaue Verhältnis, als auch die verschiedenen „Zuständigkeitsbereiche“ von Natur und Substanz bestimmt. Was also zeichnet die menschliche Natur aus? Zur Beantwortung dieser Frage könnte der folgende Naturbegriff, den Boëthius von den bislang besprochenen unterscheidet, weiterhelfen: „‘Natur ist die ein jedes Ding bestimmende spezifische Differenz.’“[xliii] Wird der Arbor Porhyriana betrachtet, so kann festgestellt werden, dass der Mensch sich von anderen körperlichen Lebewesen durch sein Vernünftigsein unterscheidet. In diesem Sinn ist also das Vernünftigsein des Menschen seine Natur.

Um genauer zu ergründen, was überdies auch unter „Natur“ im Kontext des Personbegriffs verstanden werden kann, erscheint es sinnvoll, die boëthianischen Definitions- und Erklärungsversuche durch die thomasischen zu vertiefen. Über den Menschen sagt Thomas folgendes aus: „Doch konstituiert die menschliche Seele [das geistige Lebensprinzip] und der Leib die menschliche Natur.“[xliv] Nach dieser Auffassung ist somit die menschliche Natur eine Formeinheit zweier Teilsubstanzen, nämlich des Leibes und des geistigen Lebensprinzipes. Diese Auffassung wird durch folgende Aussage des Aquinaten bestätigt: „Natur ist dasjenige, wonach etwas ‘naturhaft’ genannt wird. Nun wird aber etwas ‘naturhaft’ aufgrund dessen genannt, weil es eine Form besitzt.“[xlv]

Nun, nachdem einige grundlegende Bedeutungen von „Natur“ differenziert worden sind, kann resümiert werden, dass gemäß Boëthius’ Persondefinition die unteilbare Substanz, die die menschliche Person ist, eine Natur hat. Durch diese Darlegungen wird auch deutlich, wie stark Spaemanns Personverständnis dem des Boëthius’ entspricht.[xlvi] Die unteilbare und unmitteilbare Substanz heißt somit Person, weil sie eine vernünftige Natur besitzt. Folglichist eine bestimmte Substanz durch die vernünftige Natur (principium quo), die sie trägt bzw. das ihr zu Grunde liegt (principium quod), Person.[xlvii]Durch diese Andeutungen ist dasVerhältnis von Natur und Substanz der menschlichen Person, soweit das hier erforderlich ist, bestimmt.

Abschließend können mit Roman Ingarden verschieden Arten von Einheiten unterschieden werden.[xlviii] Die Maschine ist, im Gegensatz zur menschlichen Person, nur eine „funktionelle Einheit“, also eine teleologische Einheit von bestimmten Grundbausteinen bzw. Teilsystemen. Eine Maschine kann deswegen auch beliebig zusammen- und auseinander gebaut werden, also in kleinere Funktionseinheiten bzw. kleinere Teile zerlegt werden, ohne dass es, nachdem die einzelne Teile adäquat wieder zusammengebaut worden sind, zur Zerstörung der ursprünglichen funktionellen Einheit kommt. Diese Andeutungen machen schon deutlich, dass die menschliche Person keine bloß funktionelle Einheit oder irgendeine noch unvollkommenere bzw. losere Form der Einheit sein kann. Eine menschliche Person kann also deswegen nicht einfach, wie das „Schiff des Theseus’“ in ihre „Einzelteile“ zerlegt werden und anderswo durch das adäquate Zusammenfügen der Einzelteile wieder als diese bestimmte menschliche Person „wiederhergestellt“ werden, da die menschliche Person eine höheren bzw. vollkommenere Form der Einheit als eine bloß funktionelle Einheit besitzt.[xlix] Die menschliche Person besitzt gemäß der ingard’schen Terminologie eine tatsächliche Einheit – die menschliche Person hat eine menschliche Natur, diese menschliche Natur zeichnetsich durch die Formeinheit des geistigen Lebensprinzips und des Leibes aus. Mit Aristoteles kann ferner begriffen werden, dass der Mensch nicht durch drei verschiedene Formen (vegetative, sensitive und intellektuelle) konstituiert wird, sondern dass die menschliche Person nur eine einzige, einfache, unteilbare und unmitteilbare Form besitzt, die die niederen Formen per eminentiam enthält, durch die sie in ihrem menschlichen Personsein mitkonstiuiert wird. Diese Form kann als geistiges substanzstiftendes Lebensprinzip des Menschen begriffen werden. Gemäß dem hier vertretenem Hylemorphismus ist die menschliche Person eine Formeinheit aus Leib und geistigem Lebensprinzip (Seele).

Diese menschliche Natur subsistiert auf einmalig-individuelle-unmitteilbare Weise, nämlich indem sie von einer Hypostase besessen wird. Diese Grundwirklichkeitsform der menschlichen Person, also ihr Substanzsein und ihre verschiedenen Dimensionen sollen nun weiter thematisiert werden.

5. Abschließende thesenhafte Bemerkungen zur Spaemanns Auffassung der Person und dem menschlichen Personsein an sich

Was zeichnet die menschliche Person als ein substanzontologisch-relationales Seiendes aus? Vor allem ihr individuelles geistiges Selbstand- / Für-sich-selbst-Sein in einem Leib. Das geistig-substantielle Sein in einem Leib (Seifert) kann folglich als Grundwirklichkeitsform der menschlichen Person erkannt werden.

Ferner kann gezeigt werden, dass die eine Grundwirklichkeitsform der menschlichen Person drei unterschiedliche Dimensionen besitzt, die sich auch in zeitlicher Hinsicht im Leben der einen menschlichen Person unterscheiden können (vgl. Abb. 5).

Diese Erkenntnis impliziert auch die Erkenntnis, dass Personverhalten vom Personsein zu differenzieren ist und das Personverhalten entgegen der Meinung der Vertreter des empirisch-funktionalistischen Personbegriffs keine menschliche Person konstituieren kann. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müssen verschiedene Modi des Personverhaltens voneinander unterschieden werden (Vgl. Abb. 4). Wenn bei einem Menschen Personverhalten aktuell nicht vorhanden ist, bzw. aktuell nicht beobachtbar ist, so heißt das nicht, dass dieser Mensch, wie etwa der schlafende oder kurzzeitig bewusstlose Mensch, kein voluntativ-aktualisierbares Personverhalten besitzt (Vgl. Abb. 3). Überdies liegt, wie etwa bei der menschlichen Zygote oder dem menschlichen Embryo, eine ontologische aktive Potenz vor, Personverhalten zu erwerben, wenn die normale menschliche Entwicklung nicht ver- bzw. behindert wird. D. h. die menschliche Zygote bzw. der menschliche Embryo sind auch ohne aktuelles Personverhalten wirkliche menschliche Person und besitzt somit eine unverlierbare ontologische Würde.

Die erste Dimension der Grundwirklichkeitsform ist also das noch nicht bewusste bzw. erwachte menschliche Personsein. Diese Dimension setzt die Grundwirklichkeit, also das Geistige-Substanzsein-im-Leib des Menschen voraus. Ferner wird durch diese Erkenntnis deutlich, dass realiter und formaliter nicht zwischen biologisch-menschlichem Leben und personalem-menschlichen Leben unterschieden werden kann, also menschliches Leben immer personales Leben ist. Überdies ist menschliches Leben immer rationales Leben, auch wenn die notwendigen Bedingungen, um die ontologische Rationalität (der rationalen Form / des rationalen Lebensprinzipes) durch rationales Verhalten (Personverhalten) auszudrücken, noch nicht oder nicht mehr, wie beim noch lebenden Menschen mit irreversibler Schädigung des Gehirns (sog. Hirntoten), gegeben sind.

Die zweite Dimension der einen Grundwirklichkeitsform der menschlichen Person ist das rational-affektiv-bewusste voluntative Personsein, dass als solches zur normal entwickelten gesunden menschlichen Person gehört. Diese Dimension setzt die erste Dimension voraus, diese wiederum impliziert die Grundwirklichkeitsform, also das Geistige-Substanzsein-im-Leib der menschlichen Person.

Mit der Aktualisierung der zweiten Dimension ist auch die Verwirklichung der dritten Dimension der Grundwirklichkeitsform mitgegeben. Diese dritte Dimension kann als qualitativ-axiologische Vervollkommnung bzw. Abwertung der menschlichen Person begriffen werden.Insofern kann unter Bezugnahme auf die axiologisch-sittliche Wirklichkeit vom Menschen mit Alexander von Hales als ein „ens morale“ gesprochen werden. Indem die rational erwachte und bewusste menschliche Person auf den Ruf der objektiven Werte adäquat antwortet, kann sie sich selbst durch ihre überaktuellen Grundhaltungen, Gedanken, Worte und Taten in Bezug auf sich selbst und andere Personen in qualitativer Hinsicht (nicht aber in ontologischer Hinsicht) vervollkommnen bzw. abwerten und so immer mehr ihrer Eigentlichkeit – ihrer ontologischen Wahrheit entsprechen bzw. nicht entsprechen. Hierin kommt besonderes das relationale Sein der menschlichen Person, das zusammen mit dem Geistigen-Substanzsein des Menschen gleich ursprünglich ist, zum Ausdruck, denn nur eine wahrheitsfähige menschliche Person ist zur echten Selbsttranszendenz auf ein personales Du hin fähig.

Geraten aus den unterschiedlichsten Gründen die Grundwirklichkeitsform und ihre Dimensionen z. T., oder ganz in Vergessenheit, entsteht hierdurch das Phänomen der Personvergessenheit. Personvergessenheit ist ein sittlich negativ relevantes Phänomen, das letztendlich dazu führt, dass die menschliche Person nicht mehr, wie es ihr eigentlich aufgrund ihrer unverlierbaren ontologischen Würde gebührt, um ihrer selbst willen bejaht und geliebt wird (Personalistische Norm).

Endnoten

[i]     Vgl. Robert Spaemann. „Über den Begriff der Natur des Menschen“. In: Das Natürliche und das Vernünftige: Essays zur Anthropologie. München: Piper, 1987, S. 13–39, S. 13.

[ii] Max Scheler. Vom Umsturz der Werte – Abhandlungen und Aufsätze. Hrsg. von Maria Scheler. Bd. 3.

Bern; München: Francke, 1955, S. 173.

[iii] Thomas Nagel. Geist und Kosmos: warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Übers. von Karin Wördemann. Berlin: Suhrkamp, 2013, Vgl. Robert Spaemann. „Einführung“. In: Evolutionismus und Christentum. Hrsg. von Robert Spaemann, Reinhard Löw und Peter

Koslowski. Weinheim: Acta humaniora, VCH, 1986, S. 1–5; Hans Jonas. „Philosophische Aspekte des Darwinismus“. In: Das Prinzip Leben: Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 73–108. Spaemann schreibt z.B.:

„Diese [andere Perspektive] entwickelt sich übrigens genau parallel zu der evolutionistischen Sicht der Natur, die den Organismus nicht mehr als substantielle Instantiierung einer Spezies, sondern als Durchgangsstadium und Relikt eines kontinuierlichen Prozesses versteht.“ Robert Spaemann. Das Natürliche und das Vernünftige: Essays zur Anthropologie. München: Piper, 1987, S. 116.

Hans Jonas schreibt hierzu z. B.:

„Der Antiessentialismus der herrschenden Theorie, die nur De-facto-Ergebnisse evolutionären Zufalls kennt und keine gültigen Wesenheiten, die ihnen Sanktionen gäben, überliefert unser Sein einer Freiheit ohne Norm“ Hans Jonas. Technik, Medizin und Ethik: zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 39. Vgl. Vittorio Possenti. „Die Natur des Menschen ändern? Die Biotechnologien und die anthropologische Frage“. In: Normkultur versus Nutzenkultur: Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht. Hrsg. von Thomas S. Hoffmann und Walter Schweidler. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2006, S. 471–506, 474f.

Und auch Vittorio Possenti bemerkt:

„Es ist die Darwinsche Theorie, derzufolge keine natürliche Art Trägerin eines spezifischen Wesens ist, die zur Preisgabe der Form führt“ Ebd., S. 484.

[iv] Max Scheler. „Vom Ewigen im Menschen“. In: Gesammelte Werke 9. Hrsg. von Manfred S. Frings. Bonn: Bouvier, 1995, S. 7–71, S. 12.

[v] Ebd., S. 12.

[vi] Birnbachers These, die nur zwischen der „Äquivalenz-Doktrin“ und der Nichtäquivalenz-Doktrin unterscheidet, ist zurückzuweisen, da sie mangels genauer Unterscheidung (Vgl. Abb. 1) inkorrekt ist.

„Die Äquivalenz-Doktrin besagt, dass alle lebenden menschliche Wesen Personen sind […] Nach ihr [der Nichtäquivalenz-Doktrin] sind nicht alle lebenden menschlichen Wesen Personen, sondern nur diejenigen, die bestimmte weitergehende Bedingungen erfüllen.“

Dieter Birnbacher. „Hilft der Personenbegriff bei der Lösung bioethischer Fragestellungen?“ In: Menschenleben – Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik. Hrsg. von Walter Schweidler, A.Neumann und Eugen Brysch. Hamburg: Lit, 2003, S. 31–44, S. 32.

[vii] Christian Erk. Rationierung im Gesundheitswesen: Eine wirtschafts- und sozialethische Analyse der Rationierung nach Selbstverschulden. De Gruyter, 2015, S. 129.

[viii] Robert Spaemann. „Sind alle Menschen Personen? Über die philosophische Rechtfertigung der Lebensvernichtung“. In: Grenzen: zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart: Klett-Cotta, 2001, S. 417–428, S. 420.

[ix] Erk. Rationierung im Gesundheitswesen. S. 134.

[x] Spaemann. „Sind alle Menschen Personen?“ S. 420.

[xi] Vgl. Spaemann, „Sind alle Menschen Personen? S. 420, Vgl. Ebd., 422f.

[xii] Ebd., S. 420, Hervorhebungen: R.B.

[xiii] Vgl. auch Robert Spaemann. Personen: Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas’ und ‘jemand’. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, 1998, S. 261.

[xiv] Spaemann, „Sind alle Menschen Personen? S. 422f.

[xv] Günter Rager. „Die biologische Entwickung des Menschen“. In: Beginn, Personalität und Würde des Menschen. Hrsg. von Hans Michael Rager Günter und Baumgartner. Freiburg, München: K. Alber, 2009, S. 67–122.

[xvi] Stephen Schwarz. Die verratene Menschenwürde: Abtreibung als philosophisches Problem. Übers. von Schmucker-von Koch Joseph. Köln: Communio, 1992, 112ff.

[xvii] Robert Spaemann. „Menschenwürde und menschliche Natur (2009)“. In: Schritte über uns hinaus: Gesammelte Reden und Aufsätze II. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, S. 93–101, S. 93, Vgl. auch Robert Spaemann. „Menschenwürde und menschliche Natur“. In: Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft? Hrsg. von Markus Rothhaar und Martin Hähnel. Berlin: De Gruyter, 2015, S. 37–42.

[xviii] Spaemann schreibt über die Würde als ein Urphänomen:

„Was das Wort ‘Würde’ meint, ist begrifflich deshalb schwer zu fassen, weil es eine undefinierbare, einfache Qualität meint. Deren intuitive Erfassung kann nur durch den Hinweis auf Beispiele oder durch Paraphrasen erleichtert werden. Und es ist ferner charakteristisch für Urphänomene dieser Art, daß sie nicht nur in einem Bereich der Wirklichkeit, sondern auf analoge Weise in weit auseinanderliegenden Regionen anschaubar werden“ Robert Spaemann. Grenzen: zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart: Klett-Cotta, 2001, Kap. 8, S. 109.

[xix] Unter Naturalismus wird hier ein starker metaphysischer / ontologischer Naturalismus, als auch ein starker methodologischer Naturalismus verstanden, der u. a. die Auffassung verteidigt, dass es z. B. so etwas wieeinen menschlichen Geist / Intellekt als urphänomenale Entität nicht geben kann, alles sei vielmehr „Natur“, d. h. chemisch, physikalisch, biologisch untersuchbar und letztendlich auch erklärbar, wenn das Wissen bzw. die Naturwissenschaft genügend fortgeschritten ist. – Die philosophischen Anschauungen, die Gert Keil als „Metaphysischer Naturalismus“, „Scientia mensura-Naturalismus“ und „Analytischer Naturalismus“ bezeichnet (Vgl. Geert Keil. „Naturalismus und Biologie“. In: Naturalismus als Paradigma: wie weit reicht die naturwissenschaftliche Erklärung des Menschen? Hrsg. von Ludger Honnefelder und Matthias C. Schmidt. Berlin: Berlin University Press, 2007, S. 14–33; S. 18-26), werden hier, inkludierend unter dem Terminus „starker Naturalismus“ verstanden. Folglich kann es, gemäß des Naturalismus, einen transzendenten nicht-materiellen personalen Gott nicht geben. (Das Thema „Naturalismus“ kann hier nur angeschnitten werden, deshalb sei auf spezielle Abhandlungen zu diesem Thema verwiesen Vgl. Geert Keil. Kritik des Naturalismus. Berlin: De Gruyter, 1993; Geert Keil. „Anthropologischer und ethischer Naturalismus“. In: Probleme des Naturalismus – Philosophische Beiträge. Hrsg. von Bernd Goebel u. a. Paderborn: mentis, 2005, S. 65–100; Keil, „Naturalismus und Biologie“; Alvin Plantinga. Where the conflict really lies: science, religion, and naturalism. New York: Oxford University Press, 2011; Ludger Honnefelder. „Erste und zweite Natur des Menschen: Woran orientieren wir uns?“ In: Naturalismus als Paradigma: wie weit reicht die naturwissenschaftliche Erklärung des Menschen? Hrsg. von Ludger Honnefelder und Matthias C. Schmidt. Berlin: Berlin University Press, 2007.).

[xx] Vgl. Günther Pöltner. „Menschennatur und Speziesismus“. In: Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft? Hrsg. von Martin Rothhaar Markus und Hähnel. Berlin: De Gruyter, 2015, S. 251–270.

[xxi] Erk. Rationierung im Gesundheitswesen, S. 140. Vgl. auch Schwarz. Die verratene Menschenwürde, S. 112-121.

[xxii] Spaemann, „Menschenwürde und menschliche Natur (2009)“, S. 94.

[xxiii] Ebd., S. 94.

[xxiv] Ebd., 96f.

[xxv] Ebd., 96f.

[xxvi] Ebd., 96f. Diese Thematik bedarf gesonderter Untersuchungen und Abhandlungen (Vgl. z. B. Reinhard Löw, Spaemann Robert. Natürliche Ziele: Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens.

Stuttgart: Klett-Cotta, 2005, Leo J. Elders. „Nature as the basis of moral actions“. In: Sapientia 56.210 (2001), S. 565–588; Philippa Foot. Die Natur des Guten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004; Vittorio Possenti. „Reasons in favor of normativity of life/nature“. In: Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft? Hrsg. von Markus Rothhaar und Martin Hähnel. Berlin: De Gruyter, 2015, S. 237–250.

[xxvii] Spaemann, „Menschenwürde und menschliche Natur (2009), S. 97. Spaemann führt hierzu weiter aus:

„die beiden Interessen [stehen] eben nicht auf der gleichen Stufe […] Das eine, das Interesse an einem normalen Leben, ist ein normales Interesse, das Interesse des Pädophilen ist es nicht“ Ebd., S. 97.

Gegen diese Argumente könnte mit Norbert Hoerster eingewandt werden, „die Begründung des Lebensschutzes auf interessenethischer Grundlage erfolge ohne Berufung auf eine fragwürdige Metaphysik“ (Günther Pöltner. „Die konsequenzialistische Bergründung des Lebensschutzes“. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 47.2 (1993), S. 184–203; S. 190) und sei deswegen vorzuziehen. Doch diese Behauptung ist mit Günther Pölter zurückzuweisen:

„Der Konsequenzialismus beruht ganz im Gegenteil auf einer Reihe höchst problematischer metaphysischer Voraussetzungen: Er operiert mit einem reduktionistischen Seinsbegriff, setzt den Artennominalismus und die Vulgärvorstellung des Substanz-Akzidenz-Unterschieds vor-aus, er bewegt sich in einem instrumentalistischen Leibverständnis und unterstellt, Mensch bzw. Person zu sein, sei eine Eigenschaft. Der Konsequenzialismus glaubt, von fragwürdigen metaphysischen Voraussetzungen frei zu sein – und verfällt ihnen kritiklos. Er verwechselt die Blindheit für sie mit dem Freisein von ihnen“ Ebd., 190f.

[xxviii] Vgl. Keil, „Anthropologischer und ethischer Naturalismus“, 85f. Gegen diese These, dass die menschliche Person einen objektiven unverlierbaren Wert bzw. eine objektive unverlierbare Würde besitze, könnte aber folgender Einwand erhoben werden: Personsein bzw. Personalität sei nicht per se etwas Präskriptives (Normatives), sondern primär Deskriptives. Die Gegenargumentation, die auch in diesem Aufsatz implizit verteidigt wird, kann dabei folgende Richtung einschlagen:

„Der Sein/Sollens-Fehlschluss könnte zum zweiten kein Fehlschluss sein, weil es den Bereich des reinen Seins, also eine wertfreie Natur überhaupt nicht gibt, oder weil zumindest einiges in der Natur einen intrinsischen Wert hat. [. . . ] Die Idee objektiver Werte untergräbt die Geschäftsgrundlage des Einwandes, nämlich die Dualität von Sein und Sollen.“ Ebd., 85f. „Anders könnte der Fall bei Begriffen wie ‘grausam’ oder ‘beleidigend’ liegen, die in der Tat auf Untugenden verweisen und deshalb schwerlich eine neutrale Verwendung zulassen. Die Existenz solcher Begriffe zeigt aber nur, dass Moores Strategie, den naturalistischen Fehlschluss an einzelnen Prädikaten und insbesondere an der Einzigartigkeit und Nichtdefinierbarkeit des Wortes ‘gut’ festzumachen, zu kurz greift.“ Ebd., S. 87. Vgl. auch Philippa Foot. Natural goodness. Oxford; New York: Clarendon; Oxford University Press, 2001; Foot, Die Natur des Guten.

Im obigen Zitat und seinem Kontext bespricht Geert Keil verschiedene Argumentationsweisen gegen den Sein/Sollens-Fehlschluss bzw. den Naturalistischen Fehlschluss (naturalistic fallacy) zu argumentieren.

[xxix] Vgl. William K. Frankena. „The naturalistic fallacy“. In: Mind 48.192 (1939), S. 464–477. Das Offene-Frage-Argument G. E. Moores (vgl. Principia Ethica 1903 pp. 20-21, 43-44) begeht den Paralogismus einer Petitio principii und ist deswegen ein Zirkelbeweis, der den Beweisgrund selbst in Anspruch nimmt. Hierauf hat W. Frankena zuerst hingewiesen (Vgl. Frankena. „The naturalistic fallacy“.). Die Ausführungen dieser Fußnote sind in modifizierter und erweiterter Form aus folgendem Text (http://www.webcitation.org/6myFXkRVa) übernommen worden. Dieser Text wiederum beruht auf W. Frankenas Fachartikel. (Vgl. George Edward Moore. Principia Ethica. 2. Cambridge: University Press, 1953. Vgl. Principia Ethica 1903: http://www.webcitation.org/6n7MW94JG (Erklärung zum nachfolgenden Text: analytisch heißt hier, im Gegensatz zu synthetisch, nicht erkenntniserweiterend). Das Offene-Frage-Argument G. E. Moores als modus tollens (Wenn A dann B – Nicht B – Folglich nicht A): 1. Prämisse: Wenn X (analytisch äquivalent – gleichwertig – zu) gut ist (A), dann ist die Frage, „Ist es wahr, dass X gut ist“ bedeutungslos (B). 2. Prämisse: Die Frage „Ist es wahr, dass X gut ist“ ist nicht bedeutungslos (d. h. sie ist eine offene Frage) (nicht-B) Konklusion: Folglich X ist nicht (analytisch äquivalent – gleichwertig – zu ) gut (nicht-A). Das Offene-Frage-Argument G. E. Moores begeht den Paralogismus einer Petitio principii und ist deswegen ein Zirkelbeweis. Begründung: Analytische Äquivalenz von X und Y bedingt logisch notwendig, dass die Frage „Ist es wahr, dass X Y ist“ bedeutungslos ist (dies ist auch die Meinung G. E. Moores vgl. erste Prämisse (Wenn A dann B)). Wenn Moore mit der zweiten Prämisse annimmt, dass die Frage „Ist es wahr, dass X Y ist“ eine offene Frage ist (nicht-B), heißt das, dass er mit der zweiten Prämisse behauptet, X ist nicht (analytisch äquivalent zu) Y (nicht-A), da eine offene Frage nur dann nicht bedeutungslos ist, wenn X nicht Y ist. Doch genau dieser Sachverhalt wollte Moore durch sein Argument erst beweisen (Vgl. Konklusion: nicht-A). Das Offene-Frage-Argument G. E. Moores ist also ein informaler Paralogismus, da (nicht-B) = (nicht-A) ist. („=“ bedeutet analytisch äquivalent) Moore behauptet also mit seinem Offene-Frage-Argument: Wenn A dann B. – Nicht B (= nicht A). – Folglich Nicht A. Vgl. Frankena. „The naturalistic fallacy“.

[xxx]Vgl. Hans Jonas. „Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes“. In: Technik, Medizin und Ethik : zur Praxis des Prinzips Verantwortung. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Insel-Verl., 1987, S. 219–240; Robert Spaemann. „Ist der Hirntod der Tod des Menschen? Zum Stand der Debatte“. In: Normkultur versus Nutzenkultur: Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht. Hrsg. von Thomas S. Hoffmann und Walter Schweidler. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2006, S. 457–470; Christian Erk. „Das Eigentliche des Todes. Ein Beitrag zur Be-Lebung der Debatte über Hirntod und Transplantation“. In: Ethik in der Medizin 26.2 (2014), S. 121–135; D. Alan Shewmon. „You only die once: why brain death is not the death of a human being. A reply to Nicholas Tonti-Filippini“. In: Communio: International Catholic Review 39 (2012), S. 422–494.

[xxxi] Unter einer aktiven Potenz wird hier ein Seiendes verstanden, das einen intrinsischen und wesenseigentümlichen Entwicklungshang (Tendenz) besitzt, etwas zu werden (ἀλλοίωσις – Veränderung), was es noch nicht ist, ohne dass dabei ontologisch etwas Neues entsteht (γένεσις – Neuentstehung). So besitzt das befruchtete Hühnerei die aktiven Potenz, zum Hahn bzw. zur Henne zu werden.

[xxxii] Vgl. Robert Spaemann. „Die Zweideutigkeit des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967)“. In: Schritte über uns hinaus: Gesammelte Reden und Aufsätze II. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, S. 165–187.

[xxxiii] Vgl. Spaemann, Personen, S. 145. Spaemann schreibt z. B. im Buch ‘Personen’ im Kap. ‘Das Sein von Subjekten’: „Denn das Sein von Personen ist das Haben einer Natur“ Ebd., S. 145; Vgl. Spaemann Ebd., S. 212.

[xxxiv] Boëthius. Die Theologischen Traktate. Hrsg. und übers. von Michael Elsässer. Lateinisch-Deutsch. Hamburg: F. Meiner, 1988, trac. V, III, 4f; S. 74.

[xxxv] Ebd., trac. V, III, S. 75).

[xxxvi] Vgl. Vasile Cristescu. „Das Problem der Person bei Boethius und Richard von Sankt Viktor“. In: Journal for Interdisciplinary Research on Religion and Science 4 (2009), S. 63–82.

[xxxvii] Die empirisch-funktionalistische Weltanschauung kennt kein Wesen, keine konstitutive Natur oder substanzstiftende Form des Menschen und der menschlichen Person, deshalb fasst die empirisch-funktionalistische Persondefinition die menschliche Person als ein Bündel oder eine Ansammlung von bestimmten personalen Eigenschaften bzw. personalen Merkmalen, z. B. Bewusstseinseigenschaften auf. Hierdurch wird u. a. die Identität der menschlichen Person zum Problem, denn welche Eigenschaft von etwas kann ontologisch personale Selbigkeit zureichend begründen? Eigenschaften setzen wesensnotwendig Identität voraus, ansonsten können es nicht Eigenschaften von etwas sein. Dementsprechend ist Pöltner zuzustimmen, wenn er schreibt:

„Die Identitätsthese, der gemäß der Mensch ein Subjekt ist, das mit einem Lebewesen identisch ist, ist einer Ontologie verpflichtet, welche (grammatikalisch gesprochen) die erste Person auf die dritte Person reduziert. Sie verdreht ‘Subjekt sein’ und ‘Lebewesen sein’ zu Eigenschaften, fragt nicht, wie sie zu den Prädikaten gekommen ist, sondern schließt aus der Tatsache, dass diese Prädikate von ein und demselben Gegenstand ausgesagt werden können, dass Subjekt und Lebewesen Identisches, das heißt nicht zwei, sondern ein Gegenstand sind. Die Einheit meiner selbst wird auf die Tatsache reduziert, ein und dasselbe Worüber verschiedener Aussagen zu sein. Das ontologische wird auf das grammatikalische Subjekt reduziert. Sein und Einssein wird getrennt, zu sein wird darauf reduziert, Worüber von Aussagen zu sein“ Günther Pöltner. „Ontologische Voraussetzungen der Debatte über den Embryonenschutz“. In: Perspektiven des Lebensbegriffs: Rundgänge der Phänomenologie. Hrsg. von Stefan Nowotny und Michael Staudigl. Bd. 34. Georg Olms Verlag, 2005, S. 161–182, S. 175.

Denn ohne die Selbigkeit dieses Etwas kann nichts seine Eigenschaft sein, da es als Etwas nicht existent ist. Aufgrund dieser und anderen Sachverhalten ist der empirisch-funktionalistische Personbegriff inkohärent und inkonsistent, weshalb er nicht der gesuchte, adäquate Personbegriff sein kann.

[xxxviii] Hering formuliert in seinem Artikel über das Wesen den „Hauptsatz vom Wesen“:

Jeder Gegenstand (welche seine Seinsart auch sein möge) hat Ein und nur Ein Wesen, welches als sein Wesen die Fülle der ihn konstituierenden Eigenart ausmacht . – Umgekehrt gilt, – und dies besagt etwas Neues, Jedes Wesen ist seinem Sinnen auch Wesen von etwas, und zwar Wesen von diesem und keinem anderen Etwas“ Jean Hering. „Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee: Edmund Husserl zum 60. Geburtstag gewidmet“. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 4, Hrsg. von Edmund Husserl. Bd. 4. Halle, S: Niemeyer, 1921, S. 495–543, S. 497.

[xxxix] Boëthius. Die Theologischen Traktate. V, I; S.69.

[xl] Ebd., V, I; S. 71).

[xli] Ebd., V, I; S. 71).

[xlii] Boëthius gelangt auf folgende Weise zu seiner berühmten Definition der Person:

„Wenn folglich Person nur in Substanzen und zwar in vernünftigen ist, wenn jede Substanz Natur ist und nicht im Universalen, sondern im Individuellen ihren Bestand hat, ist die Definition der Person gefunden. ‘Einer verständigen Natur unteilbare Substanz’. Wir bestimmen aber mit dieser Definition, das, was die Griechen ὑπόστασις nennen.“ Ebd., trac. V, III, S. 75).

[xliii] Ebd., V, I; S. 71).

[xliv] Thomas von Aquin. Summa contra gentiles – Summe gegen die Heiden. 3., unveränderte Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009, Contra Gentiles, lib. 4 cap. 35 n. 3; S. 253; Vgl. Christian Erk. „Potential Persons or Persons with Potential?: A Thomistic Perspective“. In: Bioethica Forum 5.3 (2012), S. 105–111, S. 107.

[xlv] Thomas. Summa contra gentiles. lib. 4 cap. 35 n. 4; S. 255). Nun zeigt sich, welche Bedeutung Possentis, schon am Anfang zitierter Hinweis hat: „Es ist die Darwinsche Theorie, derzufolge keine natürliche Art Trägerin eines spezifischen Wesens ist, die zur Preisgabe der Form führt“ Possenti, „Die Natur des Menschen ändern?“ S. 484.

[xlvi] Vgl. z. B. Spaemann, Personen.  S. 40.

[xlvii] Vgl. Ludwig Ott. Grundriss der katholischen Dogmatik. Freiburg: Herder, 1952, S. 82.

[xlviii] Vgl. Roman Ingarden. Formalontologie 1. Teil. Bd. 2, 1. Der Streit um die Existenz der Welt. Tübingen: Niemeyer, 1965, S. 40.

[xlix] Diesen Sachverhalt thematisiert u. a. der folgende Aufsatz: Daniel von Wachter. „Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Personen und Schiffen“. In: Vielfalt und Konvergenz der Philosophie. Hrsg. von E. Löffler W. und Runggaldier. http://www.webcitation.org/6jc9fVLZA Zugegriffen am: 08.08.2016. Wien: öbvhpt, 2009, S. 243–247.

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