Aemaet
Wissenschaftliche Zeitschrift für Philosophie und Theologie
http://aemaet.de, ISSN 2195-173X
Natürliche und künstliche
Familienplanung: Einige kleinere
Ergänzungen zu Dietrich von
Hildebrands Verteidigung von
Humanae Vitae
Ein Dialog
Fritz Wenisch∗∗
2018
Der Dialog ist eine Fortsetzung von Gesprächen, die sich in dem
folgenden Buch befinden: Fritz Wenisch, Is Faith in the Gospels Irra-
tional? (vgl. Fußnote 1). Er wird hier unter der Creative-Commons-
Namensnennung-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht. Erscheinungs-
datum: 23.08.2018.
∗∗Fritz Wenisch wurde in Österreich geboren und studierte Philoso-
phie an der Universität Salzburg bei Balduin Schwarz, einem Schüler
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
urn:nbn:de:0288-20130928587
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
Ungefähr zwei Monate nach ihrer Hochzeit besuchten mich
Deb und Tom in meinem Büro - etwas mehr als zwei Jah-
re, nachdem ich ausführliche Gespräche mit ihnen geführt
hatte.1 Ich erzählte ihnen, dass ich ihre Hochzeitszeremo-
nie in der Grace Church bewegend und schön fand und
dass der Empfang in den Hope Estates entzückend war.
Sie lächelten. Es war offensichtlich, dass sie sehr glücklich
waren. Tom sagte: „Vielleicht denkst du als Katholik, dass
wir nicht wirklich verheiratet sind, sondern nur zusam-
men leben.“ Er grinste ironisch. Ich antwortete: „Für mich
hörte es sich so an, als ob ihr wirklich meintet, was ihr
gesagt habt, als ihr versprochen habt, dass ihr zusammen
sein werdet, bis der Tod euch scheidet.“ „Ja, wir meinten
es ernst“, sagte Tom, lächelte Deb an, nahm ihre Hand
und sie sagte: „Wir gehören für immer zusammen.“ Tom
fügte hinzu: „Für immer und ewig und immer und ewig
und dann noch ein bisschen.“ Deb stieß ihn an und lach-
von Dietrich von Hildebrand. Seit 1971 ist er Mitglied der Abtei-
lung für Philosophie an der University of Rhode Island in Kingston,
Rhode Island. Epost: fwenisch@XYZ (replace ‘XYZ’ by ‘@uri.edu’)
Anschrift: Department of Philosophy - University of Rhode Island -
Kingston, RI 02881 - USA
1Die erwähnten Diskussionen finden sich in Fritz Wenisch, Ist der
Glaube an die Evangelien irrational? Ein Dialog mit einem Agno-
stiker (Irving-Gaflei-Granada: International Academy of Philosophy
Press, 2016 - zur Zeit nur auf Englisch existierend: Is Faith in the
Gospels Irrational? A Dialogue with an Agnostic). Das Buch ist über
Amazon.com oder Amazon.de erhältlich. Den Inhalt dieser Gesprä-
che zu kennen, ist keine Voraussetzung für das Verständnis der in
diesem Dialog vorgestellten Überlegungen.
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Fritz Wenisch
te. Ich fragte: „Und wollt ihr Kinder haben?“ „Ja“, rie-
fen sie gleichzeitig und ohne zu zögern. „Nun“, antwortete
ich, „dann betrachtet die katholische Kirche euch als gül-
tig verheiratet.“ Sie lächelten wieder. Nachdem sie mir ein
wenig von ihren Flitterwochen erzählt hatten und nach ei-
nem kleinen Gespräch, sagte Tom. . . („T“ steht von nun
an für „Tom“, „D“ für „Deb“ und „F“ für „Fritz“):
T: Wenn ich während meiner Studienzeit die Möglichkeit
gehabt hätte, jemanden vom katholischen Glauben
abzubringen, hätte ich versucht, ihn ganz vom christ-
lichen Glauben abzubringen. Jetzt aber bin ich ver-
sucht, dich vom katholischen Glauben abzubringen
und von der kleinen evangelischen Konfession, zu der
Deb und ich gehören, zu überzeugen. Natürlich gibt
es viele andere evangelische Konfessionen, die genau-
so gültig sind wie unsere; aber nach dem, was unser
Pastor sagte, als er mich auf meine Taufe vorberei-
tete und uns Heiratsanweisungen gab, ist der Ka-
tholizismus in eine Reihe von ganz grundlegenden
Fehlern verwickelt. Erinnerst du dich noch an das
absolut offensichtliche Beispiel, das er während un-
serer Ehevorbereitung erwähnte, Deb?
D: Meinst du das, was er über Geburtenkontrolle gesagt
hat?
T: Genau.
F: Nun, was hat er denn gesagt?
D: Er sprach sich natürlich nachdrücklich gegen Abtrei-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
bung aus und warnte uns davor, dass einige soge-
nannte Verhütungsmethoden Abtreibungen sind, die
die Implantation einer befruchteten Eizelle verhin-
dern, die er als moralisches Äquivalent zur Abtrei-
bung in frühen Phasen der Schwangerschaft bezeich-
nete. Er erklärte jedoch, dass an Methoden der Ge-
burtenkontrolle, die nur die Befruchtung verhindern,
absolut nichts falsch ist. Natürlich betonte er auch,
dass verheiratete Paare die Verantwortung haben,
Kinder aufzuziehen. Gemäß Genesis 1.29, befiehlt
Gott dem ersten Menschenpaar, „fruchtbar zu sein
und sich zu vermehren“; aber er sagte, dass dies
nicht bedeutet, dass ein Paar mehr Kinder haben
muss, als es vernünftigerweise versorgen kann. Und
dann. . . dann. . . dann. . .
T: Nun, lass mich hier „einsteigen“. Deb scheint zu zö-
gern, dir zu sagen, dass er auf einen offensichtlichen
Fehler in der römisch-katholischen Lehre hingewie-
sen hat. Das war übrigens nicht das einzige Mal,
dass er dem Katholizismus sehr kritisch gegenüber-
stand. Ich glaube, er war besorgt, dass wir durch
unsere Gespräche mit dir zu sehr vom katholischen
Glauben beeinflusst werden könnten. Deine Kirche
erlaubt doch das, was man „natürliche Familienpla-
nung“ nennt, nicht wahr?
F: Ja, sie besteht darin, die relativ wenigen Tage im Zy-
klus einer Frau zu bestimmen, an welchen sie emp-
fangen kann, und sich an diesen Tagen vom ehelichen
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Fritz Wenisch
Akt zu enthalten.
T: Und was ist das Ziel der natürlichen Familienplanung?
F: Sicherzustellen, dass die Frau kein Kind empfängt -
zumindest nicht in der Zeit, in der diese Methode
der Familienplanung praktiziert wird.
T: Ist das nicht genau das gleiche Ziel, das man mit der
sogenannten künstlichen Geburtenkontrolle verfolgt?
F: Ja.
T: Es gibt also zwei Verfahren, die genau das gleiche Ziel
haben und die, wenn sie erfolgreich durchgeführt
werden, auch zu genau dem gleichen Ergebnis füh-
ren. Wie unser Pastor sagte, ist es mehr als merk-
würdig, dass eine christliche Konfession eines dieser
Verfahren billigt, während sie das andere verbietet.
Es kommt mir so vor, als würdest du mir sagen: „Du
darfst mein Zimmer nicht betreten, wenn du aus der
Richtung des Abteilungssekretariats kommst, aber
du darfst es betreten, wenn du aus der entgegenge-
setzten Richtung des Flurs kommst.“ Diese Richtlinie
wäre völlig willkürlich. Es sei denn, du könntest auf
etwas Negatives hinweisen - wie Schmutz auf dem
Flurboden in Richtung des Sekretariats, Schmutz,
der an meinen Schuhen kleben bleibt und den ich in
dein Büro tragen könnte, wenn ich von dieser Seite
komme. Ich muss meinem Pastor zustimmen, dass
die katholischen Richtlinien zur Geburtenkontrolle
ebenso wenig Sinn machen. Was kannst du sagen,
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
außer zuzugeben, dass das Gebot, keine künstliche
Geburtenkontrolle zu verwenden, genauso willkür-
lich ist, wie wenn du mir sagst: „Betritt niemals mein
Zimmer, wenn du aus der Richtung des Sekretariats
kommst“?
F: Zunächst möchte ich euch empfehlen, das folgende, re-
lativ kurze Werk Dietrich von Hildebrands zu lesen:
Liebe, Ehe und das katholische Gewissen - Zum Ver-
ständnis der Lehre der Kirche zur Geburtenkontrol-
le.2 Hier ist eine Kopie davon - ihr könnt sie gerne
ausleihen.
T: Und zweitens?
F: Du scheinst zu implizieren, dass es keinen moralischen
Unterschied zwischen zwei Arten des Handelns gibt,
wenn ihr Ergebnis das gleiche ist.
T: Ich impliziere das nicht nur, sondern sage ausdrücklich,
dass es so ist.
F: Dann denke an das folgende Beispiel: Ein Mann - der
2Love Marriage and the Catholic Conscience (Manchester, NH:
Sophia Institute Press, 1998). Das Werk wurde ursprünglich auf
Deutsch veröffentlicht mit dem Titel: Die Enzyklika
„Humane
Vitae“- ein Zeichen des Widerspruchs (Regensburg: Habbel, 1968).
Anschließend erschien das Werk in englischer Sprache, übersetzt von
John Crosby und Damian Fedoryka, mit dem Titel The Encyclical
„Humanae Vitae“- A Sign of Contradiction (Chicago: Franciscan
Herald Press, 1969). Die Ausgabe der Sophia Institute Press enthält
auch einen Nachdruck der Enzyklika Humanae Vitae von Papst Paul
VI.
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Fritz Wenisch
Vater von fünf Kindern - liegt mit einer schweren
Herzkrankheit im Krankenhaus. Er wird sterben, wenn
er keine Herztransplantation bekommt. Sein Tod wä-
re eine unsägliche Tragödie für seine Familie. Ein un-
verheirateter Mann wird nach einem schweren Au-
tounfall ins Krankenhaus gebracht. Eine von ihm
unterzeichnete Vereinbarung als Organspender liegt
vor. Er stirbt an den Folgen des Unfalls, und sein
Herz rettet das Leben des Vaters der fünf Kinder.3
Was hältst du davon? War das, was die Ärzte taten,
angemessen?
T: Der Mann, der gestorben ist, würde mir leid tun; aber
offensichtlich war das, was getan wurde, angemessen.
F: Erlaube mir nun, das Beispiel ein wenig zu ändern.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der unverheirate-
te Mann, der schwer verletzt ins Krankenhaus ge-
bracht wird, sterben wird, aber es gibt keine abso-
lute Sicherheit - vielleicht wird er überleben. Das
Herz für die Transplantation wird jedoch sofort ge-
braucht, sonst stirbt der Vater von fünf Kindern.
Der alleinstehende Mann ist für den Vater ein sehr
gut verträglicher Organspender. Der Arzt führt die
Transplantation durch und rettet damit das Leben
des Vaters von fünf Kindern, aber er verursacht den
Tod des anderen und rechtfertigt sein Handeln mit
3Dieses Beispiel setzt natürlich voraus, dass der Organspender
wirklich gestorben ist. Ob der sogenannte „Hirntod“ in diesem Zu-
sammenhang ausreicht, ist natürlich mehr als fraglich.
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
den Worten: „Der andere Mann wäre wahrschein-
lich sowieso in ein oder zwei Tagen gestorben“. Was
hältst du von seinem Verhalten?
T: Es wäre schrecklich.
F: Aber hat es am Ende nicht genau das gleiche Ergeb-
nis wie das Vorgehen des Arztes im ersten Beispiel?
Der unverheiratete Mann ist tot, und das Leben des
Vaters von fünf Kindern ist gerettet.
T: Ja, aber. . .
F: Zeigt ein Vergleich dieser Beispiele nicht, dass der Blick
auf das Endergebnis menschlicher Handlungen nicht
ausreicht, um festzustellen, ob die menschliche Hand-
lung moralisch akzeptabel ist oder nicht? Zeigen sie
nicht, dass auch andere Faktoren berücksichtigt wer-
den müssen? Gibt es etwas, das dir aufgrund der
Herztransplantationsbeispiele in den Sinn kommt?
D: Ich würde sagen, dass jeder Mensch, auch jemand, der
wahrscheinlich in kurzer Zeit sterben wird, ein Recht
auf Leben hat, dass dieses Recht im zweiten Fall ver-
letzt wird, aber nicht im ersten; dass dies das Ver-
halten des Arztes im ersten Fall akzeptabel macht,
aber im zweiten Fall inakzeptabel.
F: Eine gute Antwort, Deb. Stimmst du zu, Tom?
T: Ich stimme zu; aber ich sehe nicht, wie dies auf den Un-
terschied zwischen natürlicher und künstlicher Ge-
burtenkontrolle angewendet werden kann, es sei denn,
124
Fritz Wenisch
man nimmt ein Recht auf Leben vor der Empfängnis
eines Menschen an, also vor seiner Existenz. Wirst
du jetzt sagen, dass ein solches Recht besteht? Und
selbst wenn es das täte - womit ich nicht einverstan-
den bin - würde ich immer noch nicht sehen, wie
eine natürliche Geburtenregelung weniger eine Ver-
letzung dieses Rechts wäre als eine künstliche Ge-
burtenkontrolle.
F: Keine Sorge, ich werde nicht behaupten, dass jemand,
der nicht einmal existiert, irgendwelche Rechte hat.
Das Beispiel soll nur verdeutlichen, dass die Betrach-
tung des Endergebnisses menschlichen Handelns nicht
ausreicht, um die moralische Qualität dessen zu be-
stimmen, was getan wurde, ob es richtig oder falsch
ist. Es ist natürlich nicht in Abrede zu stellen, dass
das Ergebnis menschlichen Handelns einer der Fak-
toren ist, tatsächlich ein sehr wichtiger Faktor, der
berücksichtigt werden muss, aber auch andere Fak-
toren müssen berücksichtigt werden. Könnte es nicht
sein, dass es neben dem identischen Endergebnis Fak-
toren gibt, die die natürliche Familienplanung mora-
lisch akzeptabel machen und gleichzeitig zur morali-
schen Unzulässigkeit der künstlichen Geburtenkon-
trolle beitragen?
T: Viel Glück dabei, uns davon zu überzeugen, dass es
solche Faktoren gibt. Ich kann keine sehen, und ich
denke, Deb ist auf meiner Seite. Deb?
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D: Ich kann auch keine sehen.
T: Nun, während unserer Gespräche vor einigen Jahren
haben du und Deb euch gelegentlich gegen mich „ver-
bündet“; jetzt sind wir beide gegen dich.
F: Mal sehen, was ich gegen eine Zweidrittelmehrheit tun
kann. Ihr beide könnt wahrscheinlich viele Dinge auf-
zählen, für die ihr dankbar sein solltet - nennen wir
sie „Güter“. Kannst du einige aufzählen?
T: Dass ich mit einem hohen Notendurchschnitt abge-
schlossen habe, dass ich gesund bin, dass ich einen
gut bezahlten Job habe, dass mein Chef freundlich
zu mir ist, dass wir genug zu essen haben, dass wir
dich besuchen können - und eines der größten Gü-
ter: Dass ich Deb getroffen habe, dass wir uns lieben
und dass wir jetzt verheiratet sind. Meine liebe, liebe
Deb! (Er legte seinen Arm kurz um ihre Schultern.)
D: Mein liebster Tom!
F: Zu sagen, dass ich mich sehr für euch freue, ist die Un-
tertreibung des Jahrhunderts. - Viele andere Güter
könnten wahrscheinlich zu deiner Liste hinzugefügt
werden. Die Gruppe von Gütern kann nun in zwei
Untergruppen eingeteilt werden, die sich überschnei-
den. Erstens gibt es Dinge, die im wahren Interesse
eines Menschen liegen.4 Gesundheit, genügend Nah-
rung oder ein Platz zum Leben sind Beispiele. Zwei-
4Diese nennt Dietrich von Hildebrand „objektive Güter für die
Person“.
126
Fritz Wenisch
tens gibt es Dinge, die in sich wertvoll sind, deren
Existenz besser ist als deren Nicht-Existenz, die die
Welt bereichern.5 Ich bin sicher, Tom, du würdest
zustimmen, dass Deb ein Beispiel aus dieser zweiten
Gruppe ist.
T: Da stimme ich voll und ganz zu!
F: An diesem Beispiel seht ihr, dass sich die beiden Gü-
tergruppen überschneiden: War es nicht in deinem
besten Interesse, dass sie in dein Leben kam?
T: Was für eine Untertreibung!
F: Hier ist ein weiteres Überlappungsbeispiel: Ich schätze,
dass ihr in der nicht allzu fernen Zukunft euer erstes
Kind haben werdet - ein in sich wertvolles Objekt
(denkt daran, dass Philosophen nicht beabsichtigen,
Dinge auf negative Weise zu „objektivieren“, wenn
sie sie „Objekte“ nennen, sondern dass sie diesen Be-
griff auf alles anwenden, was ist oder gedacht werden
kann). Aber ein Kind zu haben wird auch in eurem
besten Interesse sein - es wird euch viel Freude und
Glück bringen.
Glaubt ihr, dass euch klar ist, was mit „Gut“ gemeint
5Diese bezeichnet von Hildebrand als „objektive Werte“. In die-
sem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass von Hildebrand
die Tatsache, dass eine Person ein objektives Gut erlebt, als Wert
betrachtet; daher ist jede Handlung, die jemand anderem ein objek-
tives Gut verleiht, eine Handlung, durch die ein Wert realisiert wird.
Siehe Dietrich von Hildebrand, Ethik (Chicago: Franciscan Herald
Press, 1992), S.91.
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ist?
T: Ich denke schon. Wie steht es mit dir, Deb?
D: Ich denke es auch, Tom, mein kostbarstes Gut.
F: Lasst mich nun auf eine weitere wichtige Unterschei-
dung zwischen zwei Arten von Gütern hinweisen.
Denkt an Güter wie Gesundheit, genug Essen und
einen Platz zum Leben. Stellt euch eine Person vor,
in deren Leben eines dieser Güter fehlt. Wäre das
nicht negativ?
T: Ja, das wäre negativ. Mangel an Gesundheit (z.B. Krank-
heit), Nahrung (z.B. Hunger) und Obdachlosigkeit
sind negativ.
F: Es gibt also Güter, deren Abwesenheit ein Übel ist.
D: Ist das nicht bei allen Gütern so?
F: Hast du Geschwister?
D: Ja, wir sind zu fünft, ich habe vier ältere Brüder.
F: Du bist also der Jüngste in der Familie.
D: Ja.
F: Das bedeutet natürlich, dass du keine jüngere Schwe-
ster hast.
D: Nein, ich hab‘ keine.
F: Aber wenn du eine hättest, wäre sie als Mensch nicht
kostbar, eine Bereicherung des Universums, ein großes
Gut?
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Fritz Wenisch
D: Ja.
F: Aber sie existiert nicht - sie ist abwesend.
D: Richtig.
F: Ist ihre Abwesenheit ein Übel?
D: Nein.
F: Es gibt also Güter, deren Abwesenheit kein Übel ist.
Bevor ich eine wichtige Qualifikation zu dem mache,
was ich gerade gesagt habe, möchte ich ein weite-
res Beispiel anführen: Wäre es nicht toll, wenn ihr
nächste Woche einen zweiwöchigen Urlaub in Salz-
burg beginnen könntet? Seht euch nur das Bild da
oben an der Wand an.
D: Was für eine schöne Stadt!
F: Nun, wie wäre es mit einem Besuch für zwei Wochen?
Wäre es nicht wunderbar, wenn ihr nächste Woche
eure Reise beginnen könntet?
T: Es wäre wunderbar.
F: Aber es wird nicht funktionieren, oder?
T: Nein, wir haben keinen Urlaub, außerdem könnten wir
es uns nicht leisten; wir müssen für die Anzahlung
des Hauses, das wir kaufen wollen, sparen.
F: Ich nehme aber an, dass ihr in den nächsten zwei Wo-
chen dennoch glücklich sein werdet - glücklich mit-
einander, mit den Dingen, die ihr zusammen macht,
vielleicht sogar mit eurer Arbeit - hoffentlich zumin-
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
dest.
T: Du hast Recht.
F: Diese Reise nach Salzburg ist also ein weiteres Beispiel
für ein Gut, dessen Abwesenheit kein Übel ist. Wir
müssen also zwischen Gütern, deren Abwesenheit ein
Übel ist, und Gütern, deren Abwesenheit kein Übel
ist, unterscheiden. Gesundheit, ein Ort zum Leben,
Augenlicht oder die Fähigkeit zu hören gehören in
die erste Gruppe; Debs jüngere Schwester und eure
Reise nach Österreich gehören zur zweiten Gruppe.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich auf
die zuvor aufgeschobene Qualifikation zurückkom-
men: Ich nehme an, Tom, dass du an der Universi-
tät von Rhode Island (URI) ziemlich glücklich warst,
bevor du Deb getroffen hast?
T: Jetzt kann ich mir ein Leben ohne sie nicht einmal
mehr vorstellen; es ist aber wahr, ich hatte eine wun-
derbare Zeit an URI, weg von zu Hause, für mich
selbst verantwortlich, mit meinen Freunden zusam-
men zu sein (außer in den ersten vier oder fünf Wo-
chen - sie waren irgendwie hart für mich).
F: Das ist die übliche Erstsemestererfahrung. Dass Deb in
dein Leben trat, war ein großes Gut für dich; aber
wie du gerade angedeutet hast, war ihre Abwesenheit
kein Übel.
T: Du hast Recht.
130
Fritz Wenisch
F: Aber jetzt wäre es ein großes Übel, sie zu verlieren.
T: Das wäre schrecklich! Rede nicht mal darüber!
F: Wenn wir also von Gütern sprechen, deren Abwesen-
heit kein Übel ist, denken wir an Situationen, in de-
nen das Gut nie vorhanden war; der Verlust eines
Gutes ist immer ein Übel, auch wenn vor der Ge-
genwart des Gutes kein Übel erfahren wurde.
Das lässt sich auch mit Debs jüngerer Schwester il-
lustrieren, die sie nie hatte. Angenommen, deine El-
tern hätten ein sechstes Kind gehabt. Das wäre si-
cher möglich gewesen, nicht wahr?
D: Ja.
F: Wie aber, wenn das Kind gestorben wäre, als es zwei
Jahre alt war? Wie hättest du reagiert?
D: Mit großer Traurigkeit.
F: Aber nehmen wir an, jemand hätte gesagt: „Worüber
bist du traurig? Du hast deine kleine Schwester vor
drei Jahren nicht vermisst, und die Situation ist nur
wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie damals war.“
D: Diese Äußerung wäre nicht hilfreich gewesen, und dazu
noch unqualifiziert.
F: So ist es jetzt hoffentlich klar: Dass die Abwesenheit
eines Gutes kein Übel ist, kann nicht auf den Verlust
dieses Gutes übertragen werden; es gilt nur für die
Situation vor der Existenz des Gutes. Auf der ande-
ren Seite gibt es Güter, deren Abwesenheit ein Übel
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
ist, auch wenn sie nie vorhanden waren - wie z.B.
Augenlicht, das Freisein von Gehirnschäden oder dass
ein Mensch zwei Beine hat.
Ist es jetzt nicht möglich, Handlungen durchzufüh-
ren, durch die wir anderen Güter zur Verfügung stel-
len?
T: Ja. Immer wenn wir jemandem helfen, der Schwierig-
keiten hat, führen wir eine solche Handlungen durch.
F: Betrachten wir kurz Handlungen, durch die wir ande-
ren ein Gut zur Verfügung stellen, dessen Abwesen-
heit ein Übel ist (wie ihr sehen werdet, behandeln wir
als unser Hauptthema Handlungen, die zum Entste-
hen eines Gutes beitragen, dessen Abwesenheit kein
Übel ist).
Angenommen, du siehst einen Verletzten am Stra-
ßenrand; es ist klar, dass er sofortige medizinische
Hilfe braucht und du bist der Einzige, der ihn leicht
ins Krankenhaus bringen kann, aber du ignorierst
ihn.
D: Tom würde das nie tun.
F: Ich weiß - aber nehmen wir an, jemand würde es tun.
D: Das wäre schrecklich.
F: Du sagst also, dass Tom verpflichtet wäre, den Verletz-
ten ins Krankenhaus zu bringen.
D: Ja, das ist es, was ich sage.
F: Ihn ins Krankenhaus zu bringen, bedeutet, ihm ein
132
Fritz Wenisch
Gut zu verschaffen, dessen Abwesenheit ein Übel ist,
nicht wahr?
D: Ja.
F: So zeigt das Beispiel, dass es in vielen Fällen eine
Pflicht gibt, Handlungen durchzuführen, die zur Ver-
wirklichung von Gütern beitragen, deren Abwesen-
heit ein Übel ist. Stimmt das?
D: Ich stimme zu und bin sicher, dass Tom das auch tut.
T: Ja, das tue ich.
F: Darüber hinaus ist die Pflicht einfach aus der Begeg-
nung mit dem Übel entstanden. Es muss weder ein
Versprechen geben, einem anderen zu helfen, noch
ein Befehl einer legitimen Autorität oder einer Ver-
pflichtung, die sich aus der Unterzeichnung eines Ver-
trages ergibt, vorliegen.
T: Einverstanden - wenn wir auf Übel stoßen, haben wir
die Pflicht, zur Verwirklichung des Gutes beizutra-
gen, dessen Abwesenheit zu dem Übel führt, dem wir
begegnen.
F: Sei vorsichtig; verallgemeinere nicht voreilig. Angenom-
men, Deb, einer von Toms Kollegen ist in Gefahr,
völlig blind zu werden, sein Augenlicht könnte nur
durch eine Hornhauttransplantation erhalten wer-
den, und Tom wäre der perfekte Hornhautspender.
Wäre er verpflichtet, eines seiner Augen aufzugeben,
damit sein Kollege mit einem Auge sehen kann?
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
D: Wenn Tom das tun würde, wäre das eine sehr noble
Tat - aber nein, er wäre nicht verpflichtet.
F: Es würde über den Ruf der Pflicht hinausgehen. So
können wir sehen, dass nicht alle Handlungen, die
zur Verwirklichung von Gütern beitragen, deren Ab-
wesenheit ein Übel ist, verpflichtend sind. Die Fest-
legung der Bedingungen, unter denen eine solche
Pflicht besteht, ist eine komplizierte Aufgabe; lasst
uns jedoch nicht darauf eingehen, denn für unser
Thema - die Geburtenkontrolle - sind Handlungen
wichtig, die Güter hervorbringen, deren Abwesenheit
kein Übel ist.6
Stellt euch folgendes Szenario vor: Ich weiß, dass ihr
schöne Flitterwochen hattet, obwohl ihr darauf ach-
ten musstet, dass sie nicht zu teuer waren. Ange-
nommen, es wäre mir in den Sinn gekommen, euch
eine zweiwöchige Reise nach Österreich zu finanzie-
ren, die natürlich in Salzburg begonnen hätte, aber
auch Wien und einige andere schöne österreichische
Städte eingeschlossen hätte. Wäre die Finanzierung
dieser Reise nicht eine Handlung gewesen, die ein
Gut hervorgebracht hätte, dessen Abwesenheit kein
Übel ist?
6Eine ausführliche Diskussion dieser „komplizierten Aufgabe“ fin-
det sich in Fritz Wenisch, „To Do or not To do. . . Basic Elements of
an Ethics of Action“ („Handeln oder nicht handeln—Grundelemente
einer Handlungsethik“), in Aletheia - An International Yearbook of
Philosophy, Band VII (Bern: Peter Lang, 2002), S. 31-220.
134
Fritz Wenisch
D: Es wäre wunderbar gewesen - aber nein, seine Abwe-
senheit war kein Übel; obwohl wir unsere Flitterwo-
chen nicht in Österreich verbracht haben, waren sie
wirklich schön.
T: Das kannst du nochmals sagen!
F: Wäre ich verpflichtet gewesen, diese Reise für euch zu
finanzieren?
D: Natürlich nicht.
F: Wenn alles sich, wie beschrieben, verhält, zeigt das
nicht, dass ich keine Pflicht habe, ein Gut hervor-
bringen, dessen Abwesenheit kein Übel ist?
T: Dem ist so. Aber warum sagst du, „wenn alles sich,
wie beschrieben, verhält“?
F: Ich habe keine Pflicht, euch das Geld für eine Reise
nach Österreich zu geben, wenn der nächste Urlaub
für euch beide ansteht, oder?
T: Nein, natürlich nicht!
F: Aber wenn ich versprechen würde, diese Reise zu finan-
zieren, und ihr akzeptiert das Versprechen? Würde
mich das nicht verpflichten, euch das Geld zu geben?
T: Ja, dann wärest du dazu verpflichtet.
F: Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, „wenn alles
sich, wie beschrieben, verhält“. Es mag äußere Fakto-
ren geben, die es verpflichtend machen, ein Gut her-
beizuführen, dessen Abwesenheit kein Übel ist, wie
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
z.B. ein Versprechen. Um aber zu wiederholen, was
ich vorher gesagt habe - wenn alles sich, wie eben
beschrieben, verhält, ich also ein Gut herbeiführen
kann, dessen Abwesenheit kein Übel ist, kann dieses
Handlung moralisch lobenswert sein, ist jedoch nicht
verpflichtend.
Um sicherzustellen, dass wir nicht voreilig verallge-
meinern, lasst uns an ein Beispiel eines Gutes den-
ken, das noch viel höher ist als eine Reise nach Öster-
reich: Deb, hätte deine Mutter nach deiner Geburt
noch weitere Kinder bekommen können?
D: Sie war noch nicht zu alt dafür.
F: Dann haben deine Eltern vielleicht sogar daran ge-
dacht, ein weiteres Kind zu bekommen, haben sich
aber dagegen entschieden. Hätten sie ein weiteres
Kind gehabt, hätten sie ein großes Gut hervorge-
bracht, dessen Abwesenheit kein Übel ist, wie wir zu-
vor gesehen haben. Haben sie jedoch dadurch, dass
sie kein sechstes Kind bekommen haben, eine Pflicht
verletzt?
D: Fünf Kinder aufzuziehen war genug Arbeit für sie -
nein, sie haben keine Verpflichtung verletzt. Sie hat-
ten keine Pflicht, ein sechstes Kind zu bekommen.
T: Stimmst du zu, Fritz?
F: Ja, natürlich. Erinnert euch: Wenn es keine äußeren
Faktoren gibt - wie z.B. ein Versprechen - gibt es
keine Pflicht, zum Entstehen eines Gutes beizutra-
136
Fritz Wenisch
gen, dessen Abwesenheit kein Übel ist; es gibt nur
das, was ich eine „Einladung“ nenne.
T: Interessant. Es scheint, dass alles, was wir bisher dis-
kutiert haben, unseren Standpunkt zur Geburten-
kontrolle bekräftig.
F: Warte ein wenig. Hier ist ein weiteres Beispiel: Ange-
nommen, ein reicher Mann besucht eine Familie -
der Vater arbeitet als Automechaniker - und ist tief
beeindruckt von der Intelligenz ihrer Tochter. Wäh-
rend des Gesprächs erfährt er, dass sie am Ende des
laufenden Schuljahres ihr Abitur machen wird. „Wel-
che Universität wird sie besuchen?“ fragt er. Sie ant-
worten, dass die Familie es sich nicht leisten kann,
sie an eine Universität zu schicken, dass sie eine Se-
kretärin für ihren Laden brauchen und dass sie dort
nach der Schule arbeiten wird. Sie äußert, dass sie
sich darauf freut, ihrem Vater zu helfen. Später an
diesem Tag, in seinem Hotelzimmer, fragt sich der
wohlhabende Mann, ob er der jungen Frau anbieten
soll, die Hochschulausbildung zu finanzieren und ihr
vorzuschlagen, sich so bald wie möglich an erstklassi-
gen Universitäten zu bewerben. Ist er dazu verpflich-
tet?
T: Nein, natürlich nicht; dies ist ein weiterer Fall des Her-
vorbringens eines Gutes, dessen Abwesenheit kein
Übel ist. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es keine
Pflicht, solche Handlungen durchzuführen.
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
F: Kurz vor dem Schlafengehen beschließt er, der jun-
gen Frau die Finanzierung ihres Studiums anzubie-
ten und am nächsten Morgen die Familie des Au-
tomechanikers anzurufen. Nachdem er aufgestanden
ist, nimmt er den Hörer ab - aber dann hat er Zwei-
fel an der Sache. Würde es ihm erlaubt sein, seine
Meinung zu ändern?
T: Natürlich! Er hat sich noch nicht verpflichtet, und nie-
mand außer ihm weiß, dass er dieses Angebot in Er-
wägung gezogen hat.
F: Erlaubt mir nun, selbst, ins Bild zu kommen. Ange-
nommen, der reiche Mann hat seine Meinung nicht
geändert und ich treffe ihn zum Frühstück im Hotel,
bevor er die Familie angerufen hat. Er sagt mir, dass
er jedes Jahr eine große Summe Geld für einen gu-
ten Zweck beiseitelegt und dass er in diesem Jahr die
Ausbildung einer begabten jungen Dame finanzieren
will. Er sagt mir auch, dass er die Familie nach dem
Frühstück anrufen wird. Lasst mich hinzufügen, dass
er sich tief in meiner Schuld fühlt, weil ich sein Le-
ben bei einer früheren Gelegenheit gerettet habe (be-
vor ihr eure Bewunderung für mich zum Ausdruck
bringt, denkt daran, dass diese ganze Geschichte er-
funden ist). Ich habe also gute Gründe anzunehmen,
dass er meinen Wünschen folgen wird, und ich schla-
ge vor, das Geld für einen anderen Zweck zu verwen-
den. Ist das moralisch akzeptabel? Würdet ihr mit
„ja“, „nein“ oder „es kommt darauf an“ antworten?
138
Fritz Wenisch
T: Ich denke, ich würde sagen: „Es kommt darauf an.“
F: Und worauf kommt es an?
T: Es kommt auf deinen Vorschlag an, was er deiner Mei-
nung nach mit dem Geld machen soll, anstatt die
Universitätsausbildung der jungen Dame zu finan-
zieren.
F: Angenommen, ich lenke seine Aufmerksamkeit auf ei-
ne andere junge, sehr begabte Abiturientin, deren
Eltern sich auch nicht leisten können, sie an eine
Universität zu schicken, und schlage vor, dass er das
Geld für sie anstatt für die Tochter des Automecha-
nikers ausgibt. Wäre das in Ordnung?
T: Angesichts der Tatsache, dass er keine Verpflichtung
eingegangen ist und dass die Familie des Autome-
chanikers nicht einmal weiß, dass er daran denkt,
das Geld zu spenden, scheint dein Versuch, ihn zu
überreden, das Geld für die Hochschulerziehung je-
mandes anderen zu verwenden, in Ordnung zu sein.
F: Angenommen, ich mache ihn darauf aufmerksam, dass
einer meiner Bekannten eine sehr teure medizinische
Behandlung benötigt, die sich dessen Familie nicht
leisten kann, dass die Mittel, die er für die Hoch-
schulausbildung zur Verfügung stellen müsste, die
Behandlung decken würden, und angenommen, ich
versuche, ihn davon zu überzeugen, das Geld für die-
sen Zweck zu verwenden?
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
139
zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
T: Das scheint auch in Ordnung zu sein.
F: Aber nehmen wir an, ich versuche mein Bestes, ihn zu
überreden, mir das Geld zu geben, damit ich nach
Las Vegas zum Spielen gehen kann.
T: Du willst, dass er das macht, anstatt die Hochschul-
bildung der Frau zu finanzieren?
F: Genau.
T: Das erscheint mir falsch. Was meinst du, Deb?
D: Ich stimme zu.
T: Ich wusste nicht, dass du ein Spieler bist, Fritz.
F: Was auch immer ich spiele, es findet nicht in Las Vegas
statt, und es ist nicht buchstäblich Glücksspiel. Aber
lasst uns sehen, was die Ergebnisse meines letzten
Würfelwurfes sind.
Den reichen Mann davon zu überzeugen, das Geld,
das für die Hochschulausbildung der jungen Frau
vorgesehen ist, für einen anderen Zweck zu verwen-
den, ist eine Handlung, die das Entstehen eines Gu-
tes verhindert, dessen Abwesenheit kein Übel ist,
nicht wahr?
T: Ja, das klingt richtig.
F: Und wie die Beispiele zeigen, ist eine solche Handlung
nicht immer moralisch akzeptabel. Es gibt zwei Din-
ge, die man vergleichen muss, um die Erlaubtheit
einer solchen Handlung zu bestimmen. Welche sind
140
Fritz Wenisch
diese?
T: Wir müssen das Gut, dessen Entstehen verhindert wird,
mit dem Zweck der verhindernden Handlung verglei-
chen.
F: Und wenn dieser Zweck von gleicher oder größerer Be-
deutung ist als das Gut, dessen Verwirklichung ver-
hindert wird - wie es der Fall ist, wenn die Hoch-
schulbildung einer Person mit der Hochschulbildung
einer gleich begabten Person oder mit der medizi-
nischen Behandlung einer Person, die schwerkrank
ist, verglichen wird, scheint es angebracht, die ver-
hindernde Handlung auszuführen.
T: Einverstanden.
F: Wenn jedoch der Zweck der verhindernden Handlung
von geringerer Bedeutung ist als die des Gutes, des-
sen Verwirklichung verhindert wird - wie es der Fall
ist, wenn die Hochschulbildung der jungen Frau mit
meiner Freude am Spielen in Las Vegas verglichen
wird - ist die verhindernde Handlung unerlaubt. Ja
oder nein?
T: Ja.
F: Jetzt sag mir: Schließt die künstliche Geburtenkontrol-
le nicht eine Handlung ein, die das Entstehen eines
Gutes verhindert, dessen Abwesenheit kein Übel ist?
- Tom? - Es scheint, als wolle er die Frage nicht be-
antworten; also was denkst du, Deb?
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
D: Ja, es scheint eine solche Handlung zu sein.
F: Was ist das Gut, dessen Verwirklichung verhindert wird?
D: Eine menschliche Person.
F: Das ist ein sehr kostbares, sehr wertvolles, sehr ho-
hes Gut. Und sind nicht Handlungen, die das Ent-
stehen eines Gutes verhindern, dessen Abwesenheit
kein Übel ist, nur gerechtfertigt, wenn sie zu einem
mindestens ebenso bedeutsamen Zweck ausgeführt
werden wie das Gut?
D: Das ist es, was wir anscheinend schon einmal gesehen
haben.
F: Wie einfach ist es, sich einen ebenso bedeutsamen Zweck
der verhindernden Handlung vorzustellen wie ein mensch-
liches Leben?
D: Dies scheint nicht einfach zu sein.
F: Ist nicht das Gut, um dessentwillen das Entstehen ei-
nes menschlichen Lebens verhindert wird, der un-
mittelbare Genuss und das Glück, welches der eheli-
che Akt mit sich bringt (ich sage unmittelbar, denn
wenn man die natürliche Geburtenregelung prakti-
zieren würde, würde dieser Genuss höchstens um ei-
nige Tage verschoben, nicht aber beseitigt)?
D: Es scheint so zu sein.
F: So ist das Gut, dessen Verwirklichung verhindert wird,
eine menschliche Person; das Gut, das durch die ver-
142
Fritz Wenisch
hindernde Handlung beabsichtigt ist, ist sorgenfreier
Sex, wenn ihr mir erlaubt, es so kühl zu formulieren.
Was steht höher, das beabsichtigte Gut oder das ver-
hinderte Gut?
D: Offensichtlich das Gut, das verhindert wird.
F: Zeigt dies angesichts dessen, was wir vorher gesehen
haben, nicht, dass die verhindernde Handlung sitt-
lich falsch ist? - Ihr beide scheint zu zögern, eine
Antwort zu geben; erlaubt mir, zusammenzufassen:
Wir haben gesehen, dass es Handlungen gibt, die
zum Entstehen von Gütern beitragen, deren Abwe-
senheit kein Übel ist. Wir haben auch gesehen, dass
es Handlungen gibt, die das Entstehen eines Gutes
verhindern, dessen Abwesenheit kein Übel ist. In Be-
zug auf die erste Art der Handlung haben wir ge-
sehen, dass, wenn keine „äußere“ Quelle einer Ver-
pflichtung (z.B. ein Versprechen) besteht, nie eine
Pflicht vorliegt, sondern nur eine Einladung, die Hand-
lung auszuführen. In Bezug auf Handlungen, die das
Entstehen von Gütern verhindern, deren Abwesen-
heit kein Übel ist, haben wir jedoch festgestellt, dass
die Pflicht besteht, diese Handlungen zu unterlassen,
wenn die Bedeutsamkeit des Zweckes, zu dem die
Handlung ausgeführt wird, nicht der Bedeutsamkeit
des Gutes entspricht, dessen Entstehen verhindert
wird. Dies zeigt, dass künstliche Geburtenkontrolle
moralisch fragwürdig ist, gelinde gesagt.
Wie wäre es mit einer natürlichen Familienplanung?
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
143
zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
Ist in diesem Fall der entscheidende Schritt, etwas
zu tun oder etwas nicht zu tun? Tom?
T: Es handelt sich darum, etwas nicht zu tun - auf den
Geschlechtsverkehr zu verzichten.
F: Ist dies eine Handlung, die das Entstehen eines Gutes
verhindert, dessen Abwesenheit kein Übel ist, oder
die Unterlassung einer Handlung, die ein Gut hervor-
bringen könnte, dessen Abwesenheit kein Übel ist?
T: Offensichtlich das zweite.
F: Und haben wir nicht festgestellt, dass es, abgesehen
von der Anwesenheit äußerer Quellen von Pflich-
ten, nie eine Verpflichtung gibt, sondern immer nur
eine Einladung, solche Handlungen durchzuführen?
Scheint es jetzt nicht, dass der Unterschied zwischen
künstlicher Geburtenkontrolle und natürlicher Fami-
lienplanung sich anders verhält, als der Unterschied,
der entsteht, wenn du aus der einen Richtung des
Sekretariats in mein Zimmer gehst oder aus der an-
deren Richtung? Tom?
T: Im Augenblick kann ich nicht an eine Antwort denken,
aber. . . aber. . .
F: Ich nehme an, du willst hinzufügen: „Aber vielleicht
fällt mir etwas ein.“ Es ist nichts falsch daran, die
Argumente, die wir vorgebracht haben, sorgfältig zu
überdenken.
Vielleicht kann ich dir an diesem Punkt mit einem
144
Fritz Wenisch
Gegenargument helfen, das einer meiner Schüler be-
nutzt hat, als ich zu diesem Punkt des Gesprächs
kam: Der Zweck einer Handlung, die das Entste-
hen eines Gutes verhindert, dessen Abwesenheit kein
Übel ist, kann entweder darin bestehen, ein ande-
res Gut hervorzubringen, dessen Abwesenheit kein
Übel ist, oder ein Übel zu verhindern, zu lindern oder
zu beseitigen. Das erste gilt für die Überredung des
wohlhabenden Mannes, die Hochschulausbildung ei-
nes anderen Abiturienten zu finanzieren anstatt die
der Tochter des Automechanikers, das zweite gilt für
den Fall der Überredung des wohlhabenden Man-
nes zur Finanzierung der medizinischen Behandlung
der schwerkranken Person, anstatt jemanden in eine
Hochschule zu senden.
Mein Gesprächspartner sagte, dass, wenn zwei Güter
auf dem Spiel stehen, deren Abwesenheit kein Übel
ist, die verhindernde Handlung nur dann erlaubt wä-
re, wenn das Gut, um dessentwillen sie ausgeführt
wird, gleich oder höher ist als das Gut, das verhin-
dert wird. Er sagte, dass es aus diesem Grund mora-
lisch fragwürdig wäre, den reichen Mann zu überre-
den, mir das Geld für die Hochschulausbildung der
jungen Dame zu geben, damit ich ein Van Gogh-
Original kaufen kann, um es in meinem Wohnzim-
mer aufzuhängen.
Er wies jedoch darauf hin, dass es unter dem Ge-
sichtspunkt der Bedeutsamkeit schwierig sei, Güter,
deren Abwesenheit kein Übel seien, mit Übeln zu
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
vergleichen. Er vertrat ferner die Auffassung, dass,
wenn das Ziel der Handlung, die ein Gut verhindert,
dessen Abwesenheit kein Übel ist, die Verhinderung
eines Übels sei, die Handlung erlaubt sei, zumindest
wenn das zu verhindernde Übel als signifikant be-
zeichnet werden könne. So nahm er die Position ein,
dass künstliche Geburtenkontrolle immer dann ak-
zeptabel ist, wenn es darum geht, eine ernsthafte
Schwierigkeit zu verhindern, die mit der Geburt ei-
nes Kindes verbunden wäre - und er sagte, dass dies
für fast alle Fälle gilt. Was hältst du davon?
T: Ich bin nicht davon überzeugt, dass es Fälle gibt, in de-
nen künstliche Geburtenkontrolle inakzeptabel ist,
während natürliche Familienplanung akzeptabel ist,
und ich hoffe, dass ich mir Argumente ausdenken
kann, die zeigen, dass beide Methoden immer gleich-
wertig sind; aber es scheint, dass angesichts dessen,
was dein Gesprächspartner gesagt hat, auch du zu-
stimmen musst, dass eine künstliche Geburtenkon-
trolle akzeptabel ist, wenn die Geburt eines Kindes
mit Schwierigkeiten verbunden wäre, z.B. wenn ei-
ne von Armut betroffene Familie bereits drei Kin-
der versorgen muss, wenn Mann und Frau arbeiten
müssen, um ihren Lebensunterhalt für ihre Familie
zu verdienen, und wenn der Arbeitsplatz der Frau
keinen Mutterschaftsurlaub erlaubt, oder wenn eine
zusätzliche Schwangerschaft Gesundheitsrisiken für
die Frau bedeuten würde.
146
Fritz Wenisch
F: Würde nicht in all diesen Fällen auch die natürliche
Familienplanung das gewünschte Ziel erreichen?
T: Richtig, aber denke daran, wie dein Gesprächspartner
dir den Kopf zurechtgesetzt hat - wenn ich diese
Sprache verwenden darf: Zumindest in Fällen, in de-
nen die Geburt eines Kindes mit ernsthaften Schwie-
rigkeiten verbunden ist, ist eine künstliche Gebur-
tenkontrolle erlaubt. Folgt das nicht eindeutig dar-
aus, was er gesagt hat? Ich bezweifle, dass du auf
sein Argument antworten konntest.
F: Angenommen, nach meiner Pensionierung lebe ich in
einer kleinen Stadt in Maine, etwa fünf Meilen vom
Appalachenpfad entfernt. Am frühen Freitagmorgen
kommt ein Freund zu mir nach Hause, sagt mir, dass
er dieses Wochenende zusammen mit einigen ande-
ren Freunden auf dem Pfad wandern wird und bittet
mich, mitzukommen. „Wir holen dich in etwa einer
Stunde ab und fahren zu einem Parkplatz, von dem
aus wir Zugang zum Pfad haben.“ Ich stimme zu,
und er sagt. „Pack‘ warme Kleidung ein. Du weißt,
dass sich das Wetter dort oben sehr schnell ändern
kann. Du hast wahrscheinlich in der Zeitung über die
sechs Menschen gelesen, die dort in den letzten drei
Wochen erfroren sind.“ Sobald er weggeht, erinnere
ich mich, dass alle meine warmen Sachen in der Rei-
nigung sind. Also gehe ich zum Haus meines Nach-
barn, um mir Kleider auszuleihen - er hat ziemlich
genau meine Größe. Er ist nicht zu Hause, und ich
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
erinnere mich daran, dass er an diesem Wochenende
nicht in der Stadt ist. Ich breche in sein Haus ein;
in einem seiner Schränke finde ich, was ich brauche,
und ich nehme es mit. Das Wetter war so, dass ich
ohne die warme Kleidung wirklich in sehr schlechter
Verfassung gewesen wäre (und meine Freunde hätten
mich sowieso nicht mitgenommen). Nach der Wan-
derung bringen mich meine Freunde nach Hause. Et-
was später gehe ich zum Haus meines Nachbarn und
läute die Glocke. Er kommt sehr aufgeregt heraus
und sagt: „Während ich weg war, brach jemand in
mein Haus ein und stahl einige meiner Kleidungs-
stücke. Hast du etwas gesehen?“ Ich antworte: „Ja,
ich brauchte deine Kleidung. Hier ist sie.“ Ich gebe
ihm eine Tasche. Er schaut hinein und erblickt sei-
ne Kleidungsstücke, dann sieht er mich an. „Was?
Du bist in mein Haus eingebrochen?“ Ich antwor-
te: „Ich brauchte die Kleidungsstücke, weil ich sonst
wahrscheinlich während der Wochenendwanderung,
die ich mit meinen Freunden auf dem Appalachen-
pfad gemacht habe, erfroren wäre“. Sehr zu meinem
Erstaunen ist er noch immer verärgert und sagt, dass
er mich sofort der Polizei melden würde.
T: Was meinst du mit „sehr zu meiner Überraschung“?
Nichts zwang dich zur Wanderung, du hättest leicht
zu Hause bleiben können.
F: Du willst also meine Rechtfertigung für den Einbruch
in sein Haus nicht annehmen?
148
Fritz Wenisch
T: Natürlich nicht! Es hätte anders sein können, wenn du
die Kleidung gebraucht hättest, um an einer Ret-
tungsaktion teilzunehmen - und dann hätte dir dein
Nachbar wahrscheinlich vergeben; es hätte sogar an-
ders sein können, wenn deine Freunde dich gezwun-
gen hätten, mitzugehen; aber das war nicht der Fall.
F: Betrachten wir das Beispiel. Es handelt sich um zwei
verschiedene Handlungen. Die erste ist, auf die Wan-
derung zu gehen. Um sicherzustellen, dass diese erste
Handlung keine negativen Folgen hat, ist eine zweite
Handlung notwendig. Welche?
T: In das Haus des Nachbarn einzubrechen und die Klei-
dungsstücke ohne seine Erlaubnis mitnehmen.
F: Was ist der Zweck dieser zweiten Handlung?
T: Zu verhindern, dass du auf deiner Wanderung erfrierst.
F: Und was ist der Zweck der ersten Handlung?
T: Ein Wochenende auf dem Appalachenpfad zu genie-
ßen.
F: Diese erste Handlung, die ich frei und ohne Zwang
durchführe, macht die zweite Handlung notwendig,
um sicherzustellen, dass die erste keine negativen
Folgen hat - in diesem Fall sogar katastrophale Fol-
gen. Was kommt dir in Hinblick auf die zweite Hand-
lung richtiger vor: „Ich nahm die Kleider, um ein
Wochenende auf dem Appalachenpfad zu genießen“,
oder „Ich nahm die Kleider, um nicht zu erfrieren“?
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
T: Es gibt einen Sinn, in dem beides zutrifft - aber das
erste scheint relevanter zu sein; andernfalls wäre es
nicht gerechtfertigt, wenn der Nachbar weiterhin ver-
ärgert wäre.
F: Das zeigt uns folgendes: Angenommen, es gibt zwei
Handlungen. Die erste könnte leicht weggelassen wer-
den, ohne schwerwiegende negative Folgen, aber um
sie ohne negative Folgen durchzuführen, ist eine zwei-
te Handlung erforderlich. In diesen Fällen ist eine
moralische Rechtfertigung der zweiten Handlung nicht
mit dem Ziel der zweiten Handlung, sondern mit
dem Ziel der ersten Handlung zu geben. Einverstan-
den?
T: Es klingt etwas kompliziert, aber ich glaube, ich habe
es verstanden. Was meinst du, Deb?
D: Ich glaube, ich habe es auch verstanden; und es scheint
durch das Beispiel erklärt zu werden.
F: Also sag mir, was sind die beiden Handlungen bei der
künstlichen Geburtenkontrolle? Was ist die erste Hand-
lung, die die Durchführung der zweiten notwendig
macht?
T: Sexueller Verkehr.
F: Der eheliche Akt. Und was ist die zweite Handlung?
T: Was getan wird, um eine Empfängnis zu verhindern
- wie die Verwendung eines Pessars, eines Kondoms
oder beides, vorzugsweise zusammen mit Spermizi-
150
Fritz Wenisch
den.
F: Was ist das Ziel der zweiten Handlung?
T: Die Schwangerschaft zu verhindern.
F: Mit anderen Worten, das Entstehen eines sehr wert-
vollen Gutes zu verhindern, dessen Abwesenheit kein
Übel ist. Und was ist das unmittelbare Ziel der er-
sten Handlung, die, wie du sagst, die zweite notwen-
dig macht?
T: Die Freude und das Glück, die durch den ehelichen
Akt hervorgerufen werden.
F: Erlaubt mir, beizufügen (um die natürliche Familien-
planung in die Diskussion zu bringen): Freude und
Glück jetzt anstatt ein paar Tage später. Erinnert
euch: Eine moralische Bewertung der zweiten Hand-
lung muss im Hinblick auf das unmittelbare Ziel der
ersten Handlung erfolgen, die, wie du sagst, die zwei-
te Handlung erforderlich macht. Die erste bringt ein
Gut hervor, dessen Abwesenheit kein Übel ist - der
unmittelbare Genuss und das Glück, das durch den
ehelichen Akt hervorgerufen wird. Die zweite ver-
hindert das Entstehen eines großen, kostbaren Gu-
tes. Vergleicht man die Bedeutung des Gutes, dessen
Entstehen die zweite Handlung verhindert, mit der
Bedeutung des Gutes, das die erste Handlung her-
vorbringt, welche steht höher? Tom?
T: Ich denke über dieses ganze Argument nach - es muss
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Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
151
zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
darin einen Fehler geben.
F: Deb, bist du bereit, meine Frage zu beantworten?
D: Wie bereits erwähnt, eine menschliche Person steht
über der Freude und dem Glück, das durch den ehe-
lichen Akt hervorgerufen wird.
F: Wenn zwei Handlungen in der oben beschriebenen Wei-
se miteinander verbunden sind, muss die zweite im
Hinblick auf das unmittelbare Ziel der ersten bewer-
tet werden. Folgt daraus nicht, dass die künstliche
Geburtenkontrolle das Entstehen eines hohen Gutes
um eines geringeren Gutes willen verhindert, selbst
wenn sie in einer Situation stattfindet, in der ei-
ne Schwangerschaft schwierig wäre? Und haben wir
nicht schon früher gesehen, dass dies moralisch nicht
akzeptabel ist?
D: Ehrlich, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
T: Vielleicht können wir uns etwas einfallen lassen, wenn
wir weiter darüber nachdenken. Erstens ist zu erwäh-
nen, dass der Verzicht auf Geschlechtsverkehr genau
zu dem gleichen Ergebnis führt.
F: Erinnere dich daran, dass das Ergebnis menschlichen
Verhaltens nicht ausreicht, um eine angemessene mo-
ralische Bewertung vorzunehmen. Und im Übrigen
bedeutet der Verzicht auf den ehelichen Akt, eine
Handlung zu unterlassen, die ein Gut hervorbringen
könnte, dessen Abwesenheit kein Übel ist; erinnere
152
Fritz Wenisch
dich daran, dass im Einzelfall niemals eine Pflicht,
sondern nur eine Einladung besteht, solche Handlun-
gen durchzuführen, es sei denn, es gibt äußere Fak-
toren, die solche Handlungen verbindlich machen.
Ich weiß, dass ihr beide immer noch mehr als zögert,
euch meinen Argumenten anzuschließen. Die mora-
lischen Überlegungen, die wir angestellt haben, sind
natürlich viel wichtiger als alle anderen Argumen-
te - wenn sie gültig sind, sind sie der Hauptgrund,
warum künstliche Geburtenkontrolle zu vermeiden
ist. Es gibt jedoch noch weitere Überlegungen zur
Unterstützung der natürlichen Familienplanung.
T: Wie zum Beispiel?
F: Neben dem ehelichen Akt gibt es viele andere Mög-
lichkeiten, wie Mann und Frau ihre Liebe zueinan-
der ausdrücken können und sollen, auch körperlich.
Etwas Wichtiges fehlt in einer Ehe, wenn diese an-
deren Wege fehlen. Sogar der eheliche Akt ist so,
dass man nicht nur in ihn „springen“ sollte, sondern
ihm sollten andere Wege vorangehen und folgen, um
Zärtlichkeit und Liebe zueinander körperlich auszu-
drücken. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass diese
anderen Ausdrucksformen der körperlichen Zärtlich-
keit zwischen Ehepartnern vorhanden sind, die regel-
mäßig relativ kurze Zeiträume durchlaufen müssen,
in denen sie sich des ehelichen Aktes enthalten müs-
sen, als unter Ehepartnern, denen der eheliche Akt
„auf Befehl“ zur Verfügung steht, wann immer sie
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
153
zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
wollen? Das erste gilt für Paare, die natürliche Ge-
burtenregelung praktizieren, das zweite für Paare,
die künstliche Geburtenkontrolle praktizieren. Wie
findest du diese Gedanken? Deb? Hast du nicht Psy-
chologie studiert?
D: Es scheint Sinn zu machen.
F: Hier ist ein weiterer Vergleich: Denkt an eine Person,
der ihre Lieblingsspeise - gebratene Ente - jeden
Abend zwei Monate lang serviert wird, im Gegen-
satz zu jemandem, der die Chance hat, sie etwa alle
zehn Tage einmal zu essen. Was, meinet ihr, wird die
Reaktion der ersten sein?
T: Ich mag gebratene Ente; aber nach ein paar Wochen
hätte ich es satt.
F: Als die zweite Person, die die Ente nur alle zehn Ta-
ge isst, würdest du sie also viel mehr genießen. Auch
wenn Essen und ehelicher Akt natürlich etwas Grund-
verschiedenes sind, so kann uns das Beispiel doch
eine wichtige Tatsache lehren: Beim ehelichen Akt
geht es nicht darum, etwas „etwa alle 10 Tage“ zu
tun oder nicht zu tun. Vielmehr sprechen wir davon,
uns in bestimmten Zeiten zu enthalten und den ehe-
lichen Akt nicht zu vollziehen. Ist es nicht so, dass
durch diesen regelmäßigen Verzicht - in der die Lie-
be zwischen den Ehepartnern in anderer Form aus-
getauscht wird - der eheliche Akt an sich viel höher
geschätzt wird, viel wertvoller wird? Also zu Etwas
154
Fritz Wenisch
wird, auf das man sich vielmehr freut, weil es eben
nicht alltäglich stattfindet, so wie du Tom, die ge-
bratene Ente mehr genießt, wenn du sie für einige
Zeit nicht gehabt hast?
Ihr seid nur etwa zwei Monate verheiratet; was ich
als nächstes sagen werde, trifft also noch nicht auf
euch zu. Es könnte jedoch in fünf, zehn, fünfzehn
Jahren anfangen, zuzutreffen. Hört, was Dietrich von
Hildebrand in dem Buch schreibt, das ich euch zur
Verfügung gestellt habe: „Vorübergehende Abstinenz
ist eine psychologische Hilfe gegen die geistig dumpfe
Macht der Gewohnheit.“7 Es gibt Paare, für die der
eheliche Akt nur ein paar Minuten dauert und bei de-
nen andere Ausdrucksformen körperlicher Zärtlich-
keit weder vorausgehen noch folgen. Vergleicht gei-
stig, was die erleben, im Gegensatz zu dem, was ihr
jetzt erlebt, wenn ihr euch einander im ehelichen Akt
hingebt. Ihr wollt wahrscheinlich nicht in der Situati-
on des Paares enden, von dem ich gerade sprach. Wie
ihr in nicht allzu ferner Zukunft sehen werdet, erfor-
dert die Vermeidung dieser Situation eine bewusste
und kontinuierliche Anstrengung; und aus den zuvor
genannten psychologischen Gründen könnte die na-
türliche Familienplanung eine große Hilfe bei diesen
Bemühungen sein. Erlaubt mir, abschließend zu er-
wähnen, dass die Enthaltung vom ehelichen Akt na-
türlich ein Opfer ist, aber Dietrich von Hildebrand
7Hildebrand, Liebe, Ehe und das katholische Gewissen, S. 66
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
sagt: „Wir sprechen. . . von Ehepaaren, von denen ge-
fordert ist, dieses Opfer für ein paar Tage zu brin-
gen. . . Die Schwierigkeit der periodischen Abstinenz
ist oft stark übertrieben: Wie viele Menschen sind
zum Beispiel bereit, sich aus beruflichen Gründen,
wie z.B. längeren Reisen, vorübergehend zu enthal-
ten?“8 Hat er nicht recht?
T: Nun, all das wäre viel weniger beunruhigend, wenn die
Annahme, auf der scheinbar alles basiert, was du in
dieser Diskussion gesagt hast, wahr wäre: Dass es
zuverlässige Methoden der natürlichen Geburtenre-
gulierung gibt. Ich habe jedoch gehört, dass die na-
türliche Geburtenregelung ziemlich wirkungslos ist
und dass sich daraus häufig ungeplante Schwanger-
schaften ergeben. Außerdem wüssten Deb und ich
nicht einmal, wie man eine natürliche Geburtenre-
gelung durchführt.
F: Was du über die Wirksamkeit der natürlichen Metho-
den gesagt hast, wird oft wiederholt, aber ich kann
dir versichern, dass es nicht richtig ist. Abgesehen
von Mittel, die die Implantation der befruchteten
Eizelle verhindern - denkt daran, dass sogar die so
genannte „Pille“ gelegentlich die Implantation einer
befruchteten Eizelle verhindert, daher fällt sie un-
ter die Verurteilung eures Pastors - ist die natürli-
che Geburtenregelung im Vergleich zu Methoden der
8Ebd.
156
Fritz Wenisch
künstlichen Geburtenkontrolle sehr vorteilhaft. Im
Hinblick auf die Funktionsweise sind viele Informa-
tionen im Internet verfügbar. Hier, auf diesem Blatt
Papier, seht ihr die URL einer Internetseite. Sie führt
euch zu einer Webseite, die euch die natürliche Fa-
milienplanung im Detail erklärt.9
Es gibt noch zwei weitere Punkte, die ich ansprechen
möchte. Erstens behaupte ich, dass ich stichhalti-
ge Argumente vorgebracht habe, die zeigen, dass ei-
ne natürliche Familienplanung moralisch akzeptabel
ist, nicht aber eine künstliche Geburtenkontrolle. Ich
weiß, dass ihr zögert, euch meinen Argumenten an-
zuschließen.
T: Das kannst du noch einmal sagen!
F: . . . Habt ihr jedoch gehört, dass ich religiöse Argumen-
te wie einen Appell an eine Lehre der Bibel oder
an eine maßgebliche Lehre der katholischen Kirche
verwendet habe, oder habe ich mich nicht auf Über-
legungen beschränkt, von denen ich glaube, dass die
menschliche Vernunft sie auch ohne die Offenbarung
verstehen kann?
T: Du hast nur an unsere Vernunft appelliert, und ich
kann dir versichern, dass meine Vernunft versuchen
9http://nfp.marquette.edu/pdf/nfp_user_manual.pdf
(http://www.webcitation.org/71Xyvx5lq). Vgl. auch J., & E.
Rötzer, Natürliche Empfängnisregelung: Der partnerschaftliche Weg
- die sympto-thermale Methode (Freiburg im Breisgau: Herder,
2013).
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
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zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
wird, ihr Bestes zu tun, um mit Gegenargumenten
aufzuwarten.
F: Angenommen, es gibt keine stichhaltigen Gegenargu-
mente und meine Argumente stehen fest. Würde das
nicht bedeuten, dass die evangelische Konfession, der
ihr angehört, offiziell ein Verhalten zulassen würde,
das moralisch falsch ist, während die Kirche, der ich
angehöre, dieses Verhalten zu Recht als moralisch
inakzeptabel bezeichnen würde?
T: Richtig, wenn es keine stichhaltigen Gegenargumente
gibt, was ich für mehr als ein großes „Wenn“ halte.
F: Und wäre das nicht ein starkes Argument für die Kon-
fession, gegen die euer Pastor argumentiert hat, als
er dich, Tom, auf die Taufe und euch beide auf die
Ehe vorbereitet hat?
T: Wenn es keine stichhaltigen Gegenargumente gibt. Die-
se Bedingung darf nicht vergessen werden. . .
F: . . . Ich weiß, das große „Wenn“. Erlaubt mir, zum zwei-
ten der beiden Punkte zu kommen. Obwohl es natür-
lich viele Meinungsverschiedenheiten zwischen eu-
rem Pastor und mir geben würde, wenn wir uns je-
mals zu einer Diskussion treffen würden, gäbe es
auch viele Punkte, über die wir uns einig wären,
so wie es viele Punkte gab, über die Deb und ich
uns einig waren, als wir uns bei unseren Gesprächen
vor mehr als zwei Jahren gegen dich, Tom, „zusam-
menschlossen“. Eine Sache, die ich besonders schät-
158
Fritz Wenisch
ze, ist sein Einwand gegen Abtreibungen - leider
gibt es christliche Konfessionen, die in dieser Hin-
sicht nicht mit ihm übereinstimmen würden. Der
zweite Punkt ist die Art und Weise, wie er die Wor-
te von Genesis 1.29 „Seid fruchtbar und vermehrt
euch“ auf die Ehe anwendet: Denkt daran, was ich in
Bezug auf Handlungen gesagt habe, die ein Gut her-
vorbringen, dessen Abwesenheit kein Übel ist: Wenn
ich nur beobachte, dass ich ein solches Gut ins Le-
ben rufen kann, gibt es keine Pflicht, sondern nur ei-
ne Einladung zum Handeln. Es kann jedoch äußere
Faktoren geben (ich habe ein Versprechen als Bei-
spiel genannt), die die Durchführung solcher Hand-
lungen verbindlich machen könnten. Mit eurem Pa-
stor sage ich nun, dass Menschen, die sich in eine
christliche Ehe begeben, unter das „seid fruchtbar
und vermehrt euch“ Gebot Gottes fallen und ver-
pflichtet sind, Kinder in die Welt zu bringen; na-
türlich nicht mehr, als man vernünftigerweise von
ihnen erwarten kann. Obwohl die natürliche Famili-
enplanung moralisch akzeptabel ist, wäre es für ein
Ehepaar nicht moralisch akzeptabel, sie während der
gesamten Dauer der Ehe zu praktizieren. Es liegt na-
türlich an euch, wann ihr Kinder bekommt. Und wie
ihr schon sagtet, beabsichtigt ihr, Kinder zu bekom-
men.
D: Ja, das tun wir.
F: Um sicherzustellen, dass es keine Missverständnisse gibt:
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 116-159, http://aemaet.de
Natürliche & künstliche Familienplanung: Einige Ergän-
159
zungen zu Hildebrands Verteidigung von Humanae Vitae
Im Gegensatz zu allen anderen Argumenten, die ich
vorhin vorgebracht habe, enthielt der zweite der bei-
den letzten Punkte ein religiöses Argument.
Aber jetzt, da es Abend wird, denke ich an eine
Handlung, die ein Gut hervorbringt, dessen Abwe-
senheit kein Übel ist: Wie wäre es, wenn ich euch
beide zum Essen in das neue Restaurant auf der an-
deren Straßenseite einlade? Es hat einen sehr guten
Ruf; das Essen soll wirklich hervorragend sein.
T: Ich habe gehört, dass es auf der teuren Seite ist.
F: Du musst dir keine Sorgen machen; wenn ich dich einla-
de, werde ich auch bezahlen. Willst du mitkommen?
D: Es ist sehr, sehr nett von dir, uns einzuladen.
F: Ihr wollt also mitkommen?
D + T: Ja, wir wollen! Wir danken dir vielmals.
Damit standen wir auf und verließen mein Büro; ich schloss
es ab, und wir überquerten die Straße. . .