Aemaet
Wissenschaftliche Zeitschrift für Philosophie und Theologie
http://aemaet.de, ISSN 2195-173X
Der menschliche Embryo als
Person
Überlegungen zu seinem juristischen und
moralischen Status
Friederike Hoffmann-Klein∗∗
2018
Der Text wird hier unter der Creative-Commons-Namensnennung-
Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht. Erscheinungsdatum 11.05.2018.
∗∗Friederike Hoffmann-Klein, geboren in Freiburg i.Br., studierte
Rechtswissenschaften. Nach der Promotion Tätigkeit als Journali-
stin und Übersetzerin mit Veröffentlichungen zu juristischen, gesell-
schaftspolitischen, historischen Themen. Nebentätigkeit als Anwältin
in kirchlichen Eheannullierungsverfahren. Sie ist verheiratet und Mut-
ter dreier Söhne.
Epost: friederike.hoffmannXYZde (ersetze ‘XYZ’ durch ‘@t-online.’)
Die Autorin ist postalisch zu erreichen über: Kapellenstr. 12 79285
Ebringen
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
urn:nbn:de:0288-20130928915
Der menschliche Embryo als Person
3
Zusammenfassung
Was ist der menschliche Embryo? „Frühe Form
menschlichen Lebens“ - oder Person? Von der Ant-
wort auf diese Frage, die ihren Ausgangspunkt in
der philosophischen Diskussion nimmt, hängt auch
die rechtliche Beurteilung seiner Schutzwürdigkeit
ab. Der vorliegende Beitrag versucht eine Antwort
auf die Frage nach Wesen und Status des Embryos
aus philosophischer und juristischer Perspektive zu
geben und dabei den Schnittbereich zwischen bei-
den Disziplinen näher zu beleuchten.
Wenn auch die Antworten, die hierauf im Lau-
fe der Geistesgeschichte gefunden wurden, unter-
schiedlich ausfallen, so lässt sich gleichwohl fest-
halten, dass ein ganzheitliches Verständnis der vor-
geburtlichen Phase menschlichen Lebens früheren
Epochen leichter fiel als unserer heutigen, von ei-
ner stark materiell geprägten Weltanschauung be-
einflussten Auffassung.
Dem Verständnis von Person als einer geistig-
leiblichen Einheit, als „geistigem Substanzsein im
Leib“ steht eine Sichtweise gegenüber, die den Men-
schen rein biologisch begreift. Dies bleibt nicht ohne
Einfluss auf die Bestimmung seiner Menschenwür-
de und seines Lebensrechts. Während eine materi-
elle Position den Faktor des noch nicht erreichten
Entwicklungsstadiums für entscheidender hält als
den Eintritt in die Existenz und deshalb nicht zu
erkennen vermag, dass der Mensch auch in den er-
sten Phasen seines (vorgeburtlichen) Lebens mehr
ist als biologische Materie, ermöglicht eine ganz-
heitliche Betrachtung, die Relativität der Zeit im
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Friederike Hoffmann-Klein
Zusammenhang mit der vorliegenden Frage wahr-
zunehmen. Sie gelangt so zu einer realistischen Be-
urteilung.
Welches Maß an rechtlichem Schutz steht dem
Embryo zu? Die Anerkennung des Embryos als ei-
genständiges Rechtssubjekt ist bereits dem Römi-
schen Recht bekannt. In der juristischen Kommen-
tarliteratur hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte
seit Erlass des Grundgesetzes ein Paradigmenwech-
sel vollzogen, der eine Abkehr von bisherigem Ver-
ständnis darstellt. Es mehren sich die Stimmen, die
Zweifel am Personsein des Embryos äußern und ihn
nur noch als „frühe Form“ menschlichen Lebens be-
greifen. In den Fokus der Betrachtung rücken an die
Stelle des Menschen seine Eigenschaften, die dar-
über hinaus an ein bestimmtes Lebensalter anknüp-
fen. Die Zuerkennung von Menschenwürde wird auf
diese Weise von biologischen Funktionen abhängig
gemacht.
Zweifel am Würdestatus von Embryonen erweisen
sich jedoch weniger als rationale Einwände denn
als interessengeleitete Argumentation. Sich die Un-
sichtbarkeit zunutze machend, werden Zweifel in-
strumentalisiert, um die reproduktive Freiheit nicht
in Frage zu stellen. Diesem Ziel dient auf juristi-
scher Ebene das Konzept einer prozesshaften Be-
trachtung des Würdeschutzes. Menschenwürde er-
weist sich in dieser Betrachtung als eine Funkti-
on des vorgeburtlichen Entwicklungsstadiums. Ei-
ne entwicklungsabhängige Menschenwürde stellt al-
lerdings in einem Gegensatz zu dem Konzept der
Menschenrechte. Getragen von der philosophischen
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Der menschliche Embryo als Person
5
Erkenntnis, dass die irreführende Bezeichnung als
„frühe Formen menschlichen Lebens“ den Sachver-
halt nicht zutreffend beschreibt, lässt sich auch für
die juristische Sphäre davon ausgehen, dass allein
eine Betrachtung, die auch den Embryo und Fö-
tus als Person in den Blick nimmt, dem Gehalt
der grundrechtlichen Normen entspricht. Weder mit
einer geringeren Schutzwürdigkeit noch dem Eu-
phemismus der größeren Differenzierungsmöglich-
keit, dem Vorteil also, seiner angeblich zunehmen-
den Schutzbedürftigkeit besser Rechnung tragen zu
können, lässt sich eine Ausgrenzung des Embryos
aus dem Schutzbereich grundrechtlicher Gewährlei-
stungen begründen.
Abstract
What is the definition of a human embryo? Is it an
“early form of life” - or a person? The answer to
this question that basically is a philosophical one,
also affects the extent of its legal protection. This
article attempts to approach the issue of the nature
of the embryo from a legal and philosophical per-
spective while taking a closer look at the intersec-
tion between these two disciplines. Different an-
swers to these questions were given over time. Non-
etheless, it can be stated that earlier epochs where
people were less influenced by a materialistic ideo-
logy had fewer difficulties taking a holistic approach
to the prenatal phase of human life.
The concept of the human person as a mental
and physical entity is opposed to a more material-
istic perception. This is not without influencing the
6
Friederike Hoffmann-Klein
definition of their human rights and dignity. While
a materialistic conception considers the fact of the
embryo not having reached a specific point of its
development to be more important than the fact of
it coming into existence, and therefore disregards
the fact that the human person from the beginning
of the first moments of prenatal life is far more than
just “biological material”, an holistic approach also
takes into consideration the relativeness of time.
This stands for a more realistic understanding.
What is the appropriate extent of protection to
be guaranteed to the embryo? The recognition of
the embryo as an autonomous legal entity is not
unknown in Roman law. In recent legal literature,
a change of paradigm has taken place, completely
modifying the concept of thinking in the course of
only a few decades. The voices that express doubts
as to whether the embryo can be considered a per-
son, but prefer to see him as an early manifestation
of life are becoming more and more numerous. It
is no longer the human person that is the focus of
consideration, but their qualities, namely those that
are in their manifestation dependent on a certain
stage of development. Thus, the recognition of hu-
man dignity is made subject to certain conditions,
in this case, certain biological functions.
Doubts as to the status of the embryo seem, as
far as its human dignity is concerned, to be more
of an argumentation driven by interests than the
result of rational objections. Taking advantage of
its invisibility, doubts are being exploited in order
not to put reproductive freedom into question. This
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Der menschliche Embryo als Person
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objective is served at the legal level by the concept
of a process-oriented treatment of human dignity.
Human dignity, in this concept, is regarded as be-
ing in function of the actual level of development.
This, however, is contrary to the concept of human
rights and human dignity. Based on the philosoph-
ical realisation that the notion of “early forms of
human life” cannot be considered as accurately de-
scribing the situation, it also holds true for the legal
sector that only the idea of the human embryo and
foetus as a person is in line with human rights, es-
pecially the legal norms of our Basic Law. Neither
the idea of the embryo being less worthy of protec-
tion nor the euphemism of larger possibilities for
differentiation can be used to justify the exclusion
of the embryo from the scope of protection of hu-
man rights.
1 Einführung
Was ist der Mensch an seinem Lebensanfang? Bloß biolo-
gisches Leben? Frühe oder früheste Form menschlichen Le-
bens - oder Person? Diese Frage ist nicht allein von philoso-
phischem Interesse. Die Antwort auf hierauf ist auch für den
Rechtsbereich unmittelbar relevant. Dies zeigt sich an der
Diskussion um den moralischen Status des Embryos. Von
der Entscheidung dieser Frage hängt ab, ob vorgeburtliches
Leben als Träger der Menschenwürde angesehen wird.
Im Folgenden soll zunächst die Diskussion um den mo-
ralischen Status des Embryos skizziert werden. Nach einer
8
Friederike Hoffmann-Klein
Einführung in den Streitstand und die Vorstellung der ver-
schiedenen Voraussetzungen, auf die es für das Personsein
ankommen soll, befasst sich der Beitrag mit der juristischen
Kommentarliteratur zu Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S.
1 GG. Dabei zeigt sich, dass der Paradigmenwechsel, der in
den letzten Jahrzehnten in Bezug auf das Verständnis der
Menschenwürde stattgefunden hat, die philosophische und
die rechtliche Ebene gleichermaßen erfasst. Er ist Ausdruck
eines reduzierten Seinsverständnisses, das auch das Konzept
der Menschenrechte in seinem Kern tangiert.
2 Der menschliche Embryo als
Person
2.1 Personsein
Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Person kann
mittels verschiedener Beschreibungen, die natürlich nur mög-
lichst präzise Annäherungen sein können, in den Blick ge-
nommen werden. Eine Definition des Menschen fällt dabei
nicht leicht.1 Beschreibungen des Menschen als „vollstän-
dige Substanz“, als eine Substanz, die in ihrem „Für-sich-
Sein“ ausgeprägter ist als alle anderen Substanzen, zeigen
ein Personverständnis, das für unsere Frage unverzichtbar
ist. Ohne ein solches Bild des Menschen, das bis zu seinem
Wesen vordringt, lässt sich schwerer verstehen, warum auch
noch nicht geborene, bewusstlose oder komatöse Menschen
1Raphael Bexten, Was ist der zureichende Grund für die unverlier-
bare Würde des Menschen?, in: Erkenntnis von Personsein, Überle-
gungen zum Mysterium der „Person“, 2013, S. 111-135, 126.
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Der menschliche Embryo als Person
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Personen sind. Sie können zwar ihre personalen Eigenschaf-
ten aktuell nicht ausüben, auf der ontologischen Ebene än-
dert sich dadurch nichts.
Augustinus hat sich auf den Menschen mit den Wor-
ten bezogen: „Die Weise, in der ein Geist mit einem Leib
verknüpft ist, ist gänzlich wunderbar und kann vom Men-
schen nicht begriffen werden - und doch ist gerade dies der
Mensch.“2 Die anthropologische Beschaffenheit des Men-
schen als geistiges Substanzsein im Leib, als geistig-leibliche
Einheit, als ontologische Ganzheit von Anbeginn seiner Exi-
stenz. Diese Natur des Menschen gilt es, ohne Ansehung des
Lebensalters, in dem sich ein Mensch befindet, anzuerken-
nen. Wenn damit der Mensch als geistig-leibliche Einheit
als die anthropologische Grundwahrheit in den Fokus der
Betrachtung rückt, so schließt dies aus, den menschlichen
Körper als bloße Materie zu sehen und letztlich mit dieser
Begründung auch sein Menschsein in der ersten Entwick-
lungsphase zu bestreiten.
Jeder Mensch besitzt eine unverlierbare Würde, die ihm
von Anbeginn seiner Existenz durch sein Person-Sein zu-
teilwird. Eine solche Ausgangsthese, die lange Zeit das Ver-
ständnis von Menschenwürde auch für den Rechtsbereich
geprägt hat, lässt sich nicht allein theologisch mit dem Ge-
danken der Gottesebenbildlichkeit begründen. Der Gehalt
dessen, was Personsein bedeutet, ist auch philosophisch prä-
zise zu fassen. In herausragender Weise hat Raphael Bexten
in seiner Monographie „Was ist menschliches Personsein?“
diesen Weg aufgezeigt. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung
2Augustinus, De Civitate Dei, hrsg. von B. Dombart/A.Kalb, 1955,
XXI, 10.
10
Friederike Hoffmann-Klein
steht die Frage nach dem adäquaten Personverständnis.
Ein reduktionistischer Personbegriff, der das Wesen der
Person rein empirisch erfasst, vermag der Wirklichkeit der
Person nicht gerecht zu werden. Es zeigt sich hier ein Phäno-
men, das Bexten als Personvergessenheit beschreibt.3 Per-
sonvergessenheit bedeutet zunächst, dass der Mensch rein
biologisch gesehen wird. Die Spezies wird in dieser rein bio-
logischen Betrachtung zum Surrogat für die Person. Das on-
tologische Wesensverständnis gerät dagegen aus dem Blick.
Dabei deutet der Begriff der Personvergessenheit darauf hin,
dass die Person als Phänomen existiert. Von Personverges-
senheit kann nämlich nur gesprochen werden, wenn es etwas
gibt, das Person ist.4
Der Personbegriff stand seit Kant im Zentrum des men-
schenrechtlichen Diskurses. Er ist der zentrale Anknüpfungs-
punkt für die Formulierung von Menschenrechten und hat
unser Verständnis in diesem Bereich entscheidend geprägt.
Mit der Abkehr von dem klassischen Personverständnis hat
jedoch der Versuch begonnen, Menschenrechte philosophisch
zu dekonstruieren und juristisch abzuerkennen.5 Menschen-
3Raphael Bexten, Was ist menschliches Personsein? Der Mensch
im Spannungsfeld von Personvergessenheit und unverlierbarer ontolo-
gischer Würde, zugl. Diss. Univers. Eichstätt-Ingolstadt, 2017; ders.,
Erkenntnis von Personsein: Überlegungen zum Mysterium der „Per-
son“, 2013.
4Bexten (wie Anm. 3), S. 298. In diesem Sinne ist Personvergessen-
heit eine Form von Heideggers Seinsvergessenheit. Bexten spricht von
einem latenten Phänomen, weil es sich in einer Zeit, in der die Ter-
minologie der Menschenrechte allgegenwärtig ist, nicht auf den ersten
Blick zeigt.
5Robert Spaemann, Personen: Versuche über den Unterschied zwi-
schen ‘etwas‘ und ‘jemand‘, 2. Aufl. 1998, S. 10.
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Der menschliche Embryo als Person
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rechte hören damit auf, Menschenrechte zu sein. Sie werden
Personenrechte.6 Der Mensch, der um seiner selbst willen
zu achten wäre, wird missachtet, wenn Menschsein nicht
mehr genügt. Die Missachtung seiner unverlierbaren ontolo-
gischen Würde bedeutet eine Verdinglichung des Menschen.
Der Mensch wird zum Gegenstand.7 Deutlich zeigt sich dies,
wenn mit dem Abstellen auf bestimmte Eigenschaften, wie
sie für den erwachsenen Menschen kennzeichnend sind, das
Überlebensinteresse eines Embryos verneint wird. Person-
vergessenheit kann damit beschrieben werden als eine Mis-
sachtung der Person in ihrem authentischen Sosein und ein
Reduzieren ihres Wesens auf etwas, das sie nicht ist.8 Per-
sonvergessenheit lässt sich damit begreifen als einen Man-
gel an rechtem Verständnis dessen, was Personsein ist.9 Ein
Mangel, der auch die juristische Debatte um die Gewährlei-
stung der Menschenwürde entscheidend prägt.
2.2 Der Status des menschlichen Embryos
Die philosophische Diskussion über den Status des Embryos
und der gesellschaftliche Bewusstseinswandel prägen auch
den Rechtsbereich. Herrschte jahrzehntelang quasi Einig-
keit darüber, die grundgesetzlichen Gewährleistungen der
Menschenwürde und des Rechts auf Leben so zu verstehen,
dass hierunter auch der noch nicht geborene Mensch zu fas-
6Somit wird auch bereits aus dem Begriff der Menschenrechte deut-
lich, dass eine weitere intraspezifische Differenzierung nicht berechtigt
ist.
7Bexten (wie Anm. 3), S. 296.
8Bexten (wie Anm. 3), S. 298.
9Bexten, a.a.O.
12
Friederike Hoffmann-Klein
sen sei, so wird dies nun zunehmend in Frage gestellt. Ein
Paradigmenwechsel, der sich in der juristischen Kommen-
tarliteratur zu Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG wi-
derspiegelt. Obgleich der Zeitpunkt des Beginns des Men-
schenlebens naturwissenschaftlich klar definiert ist - vom
Zeitpunkt der Befruchtung an ist der Embryo sowohl arts-
pezifisch (als Mensch) als auch individualspezifisch (als die-
ser Mensch) festgelegt, ohne dass seine weitere Entwick-
lung Zäsuren aufweist - wird diesem Gesichtspunkt keine
entscheidende Bedeutung beigemessen. Auch die Argumen-
te der Spezieszugehörigkeit, Kontinuität, Identität und Po-
tentialität, die dazu dienen, den Personenstatus des Em-
bryos zu begründen,10 werden von den Kritikern in einem
gegenteiligen, das Personsein ausschließenden Sinne inter-
pretiert.11
Mit dem aufkommenden Zweifel an dem Personsein des
Embryos wird nach einer Rechtfertigung für den beson-
deren Würdeschutz des Menschen gesucht. Diesen glaubt
man allein in den personspezifischen Eigenschaften zu fin-
den, welche den Menschen von anderen Lebewesen unter-
scheiden. Menschliche Eigenschaften wie Autonomie, ko-
gnitive Fähigkeiten, Selbstbewusstsein, Wünsche, Interes-
sen, Leidensfähigkeit werden dabei für die Menschenwürde
konstitutiv.12 Aber können Eigenschaften allein die Wür-
10Vgl. etwa den Überblick bei Gregor Damschen u.a. ( Hrsg.), Der
moralische Status menschlicher Embryonen, 2003, Vorwort S. 2 ff.
11Ausführlich bei Stephen Schwarz, Die verratene Menschenwürde.
Abtreibung als philosophisches Problem, 1992; vgl. auch Linder, Das
Problem des grundrechtlichen Status des Embryos in vitro - eine Apo-
rie, ZfL 2015, 10 ff. mit Erwiderung Hoffmann-Klein, ZfL 2016, 2 ff.
12Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone. Neue Argumente
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Der menschliche Embryo als Person
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de des Menschen begründen? Enthält eine solche Begrün-
dung nicht den grundlegenden gedanklichen Fehler, nicht
zwischen dem Grund der Würde, dem spezifischen So-Sein
des Menschen, und menschenspezifischen Eigenschaften zu
unterscheiden? Eigenschaften setzen ein Subjekt voraus, das
Träger dieser Eigenschaften ist.
Menschenrechte zweiter Klasse - das Kriterium der ak-
tuellen Erlebnisfähigkeit als notwendige Bedingung genuin
subjektiver moralischer Rechte
Kritiker der SKIP-Argumente, wie im deutschsprachigen
Raum in erster Linie die Rechtsphilosophen Reinhard Mer-
kel und Norbert Hoerster, argumentieren auf fragwürdi-
ger Grundlage, wenn sie - insoweit auch in Abweichung
von der Position des Bundesverfassungsgerichts - der Mei-
nung sind, die Gewährleistung besonderer Rechte könne
auch beim geborenen Menschen allein an spezifische, mora-
lisch schutzwürdige Eigenschaften anknüpfen.13 Da „frühe
Embryonen"über diese Eigenschaften nicht verfügten, kön-
ne ihnen rechtlicher und moralischer Schutz nur „über ei-
ne zusätzlich herangezogene Norm [gewährt werden], die
zum moralischen Status menschlicher Embryonen, in: Damschen (wie
Anm. 10), S. 187 ff., S. 191.
13So Reinhard Merkel, Contra Speziesargument: Zum normativen
Status des Embryos und zum Schutz der Ethik gegen ihre biologisti-
sche Degradierung, in: Damschen (wie Anm. 10), S. 35 ff.; Norbert
Hoerster Abtreibung im säkularen Staat, Argumente gegen den § 218,
2. Aufl. 1995; Erwiderung von Martin Rhonheimer, Absolute Herr-
schaft der Geborenen?: Anatomie und Kritik der Argumentation von
Norbert Hoersters „Abtreibung im säkularen Staat“. Als solche Eigen-
schaften nennt etwa Peter Singer: Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle,
Sinn für die Zukunft, Sinn für Vergangenheit, Beziehungsfähigkeit,
Kommunikation, Praktische Ethik, 3. Aufl. 2015, S. 86.
14
Friederike Hoffmann-Klein
prinzipiell solidarischer Provenienz ist.“ Dabei geht Mer-
kel zwar davon aus, dass sich diese Ausdehnung prinzipi-
ell begründen lasse, da sie moralisch geboten sei. Aller-
dings könne hieraus kein subjektives Recht, sondern ein
lediglich objektiver Schutz hergeleitet werden. Dies bedeu-
tet, dass „schutzbedürftige Interessen geborener Menschen“
stets Vorrang haben. Das Interesse des ungeborenen Men-
schen wird als von erheblich geringerem Gewicht angesehen
und tritt zurück. Eine Rechtfertigung dafür, die Grundwerte
der Rechtsordnung allein aus dem Interesse der geborenen
Menschen zu bestimmen, wird sich jedoch nur schwer finden
lassen.14 Eine solche Argumentation, die mehr behauptend
als begründend ist, lässt wesentliche Gesichtspunkte unbe-
rücksichtigt.
Menschenrechte qua Menschseins zu gewährleisten gilt als
naturalistischer Fehlschluss.15 Die Möglichkeit einer Auflö-
sung der Interessenkollision zugunsten des Embryos wird
unter Verweis auf eine angeblich „universal geteilte morali-
sche Intuition“ zurückgewiesen. Auf dieser Grundlage wird
die Annahme eines Würde- und Grundrechtsschutzes unge-
borener Menschen für nicht begründbar gehalten, da diese
im gegebenen Fall nur Menschenrechte zweiter Klasse wä-
ren. Merkel kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass ein
Grundrechtsschutz des Embryos nicht nur nicht geboten,
sondern moralisch nicht erlaubt sei.16 Konsequenterweise ist
14So auch Rolf Stürner, JZ 1990, 709, 719.
15Insbesondere Merkel, Contra Speziesargument
(wie Anm. 13);
ders., Rechte für Embryonen? Die Menschenwürde lässt sich nicht
allein auf die biologische Zugehörigkeit zur Menschheit gründen, in:
Geyer (Hrsg.), Biopolitik. Die Positionen, 2001, S. 51-62.
16Merkel, Contra Speziesargument (wie Anm. 13), S. 35 ff., 35.
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für ihn dann auch die Tötung erheblich weiter entwickelter
ungeborener Kinder unproblematisch.17
Auch der Schutz der Menschenwürde des geborenen Men-
schen soll nach dieser Auffassung nicht einfach an das Vor-
handensein bestimmter Eigenschaften angeknüpft werden,
vielmehr wird auch hierfür eine normative Zuschreibung
für erforderlich gehalten. Letztlich steht hinter einer solchen
Sichtweise ein rein materialistisches Denken, das den Blick
auf den Menschen als geistig-seelisch-leibliche Ganzheit ver-
stellt. Auf diese Weise ist es nicht mehr möglich, die Men-
schenwürde als inherent right zu denken. Menschenwürde
wird stattdessen an biologische Funktionen geknüpft.
Aufgrund der Verengung der Perspektive auf spezifische
Eigenschaften, die zudem noch als rein biologische Merkma-
le wahrgenommen werden, erscheint die Annahme besonde-
rer Menschenrechte als rechtfertigungsbedürftig. Ohne ei-
ne Rechtfertigung handele es sich um eine unzulässige in-
ter spezifische Differenzierung. Argumentiert wird auch mit
der Behauptung einer unzulässigen intraspezifischen Diffe-
renzierung. So wie es unzulässig sei, innerhalb der Spezies
Mensch zu differenzieren und aus besonderen biologischen
Merkmalen bestimmte Rechte abzuleiten, die „der Rest“
nicht hat, etwa innerhalb der Gruppe Mensch Männern be-
stimmte Rechte zuzusprechen, die Frauen nicht haben, oder
„Weißen“ solche, die „Schwarzen“ nicht zustehen, sei auch
eine interspezifische Differenzierung nicht legitim. Hier wird
jedoch übersehen, dass die Abgrenzung ungeborener von ge-
borenen Menschen mit den genannten Fällen unzulässiger
innerspezifischer Differenzierung vergleichbar ist, indem sie
17Merkel, Contra Speziesargument (wie Anm. 13), S. 51.
16
Friederike Hoffmann-Klein
an die Eigenschaft des Geborenseins anknüpft und damit ei-
ne intraspezifische Differenzierung enthält.18 Für Hoerster
jedoch ist die Anknüpfung an die Spezies ebenso willkürlich
wie ein Abstellen auf Rasse oder Geschlecht.
Das Abstellen auf Eigenschaften, die den alleinigen Un-
terschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen aus-
machen sollen, indem sie auf das innere Erleben und auf den
Wert Bezug nehmen, den das Leben für das einzelne Lebe-
wesen selbst haben kann, das über das entsprechende Be-
wusstsein verfügt, erscheint allerdings konsequent, wenn die
entscheidende Dimension, diejenige des Seins, nicht mehr
gesehen wird. Dem qualifizierten Speziesargument, das an
die Stelle der bloß biologischen, gattungsmäßigen Zugehö-
rigkeit andere Gründe treten lässt, die den Mitgliedern der
Spezies Mensch den Schutzstatus garantieren, liegt jedoch
ein entscheidender Denkfehler zugrunde. Die persontypi-
schen Eigenschaften, auf die hier abgestellt wird, haben ih-
rerseits das Leben zur Voraussetzung, dessen Schutz kann
deshalb nicht wiederum von den Eigenschaften abhängig
gemacht werden.19 Da das Lebensrecht jedem menschlichen
Wesen inhärent ist, kann es nicht von dem Grad der ent-
wickelten Fähigkeiten abhängen. Die richtige Schlussfolge-
rung müsste deshalb lauten: Ein menschlicher Embryo ist
schon vor jeder ihm möglichen Entwicklung derselbe Träger
derselben Menschenwürde wie der erwachsene Mensch, der
18So der berechtigte Einwand Eberhard Schockenhoffs, Pro Spezie-
sargument: Zum moralischen und ontologischen Status des Embryos,
in: Damschen (wie Anm. 10), S. 11 ff., S. 17.
19Rainer Enskat, Pro Identitätsargument: Auch menschliche Em-
bryonen sind jederzeit Menschen, in: Damschen (wie Anm. 10), S. 101
ff.
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Der menschliche Embryo als Person
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sich aus ihm entwickeln kann. In diesem Satz ist mit dem
Verweis auf die ihm mögliche Entwicklung ein weiterer, im
vorliegenden Zusammenhang relevanter Gedanke enthalten.
Damit klingt an, dass dem Embryo eine schon weitere Ent-
wicklung (wie sie etwa ein Erwachsener vorweisen kann) zu
dem Zeitpunkt eben nicht möglich ist. Daraus folgt aber
nicht ein geringerer Rechtsstatus.
Der Gedanke der Menschenrechte wird mit dem eigen-
schaftsbezogenen Menschenrechtsbegriff in sein Gegenteil
verkehrt. Der Embryo ist in dieser Sichtweise mangels sub-
jektiver Erlebnisfähigkeit nicht verletzbar - und deshalb
auch nicht schutzbedürftig. Merkel schreibt: „Da es (!) aber
kein solches eigenes Wohl und Wehe hat, weil es überhaupt
nichts hat, also auch nicht Wohl und Wehe erleben kann,
kann es nicht Gegenstand einer moralischen Berücksichti-
gung um seiner selbst willen sein.“20 Damit scheint Merkel
der Beweis erbracht zu sein, dass ein solches Wesen nicht
um seiner selbst willen geschützt werden könne. Selbst wenn
man diese Betrachtung im Lebensschutz zugrunde legen
würde, ergäbe sich eine Schutzbedürftigkeit des Embryos zu
einem wie man heute weiß bereits sehr frühen Zeitpunkt.21
20Merkel, Contra Speziesargument (wie Anm. 13), S. 41.
21Vgl. Christl R. Vonholdt, Beziehungsraum Mutterleib, http://
www.webcitation.org/6zKu91xZv. Nicht allein auf die Frage des
Schmerzempfindens kommt es an dieser Stelle an (Beginn des Schmerz-
empfindens ab der achten Woche, vgl. hierzu Maureen Condic, Ph.D.,
Associate Professor of Neurobiology and Anatomy, University of Utah,
http://www.webcitation.org/6zKuIYImB. Nach den Erkenntnissen
der modernen pränatalen Psychologie kann nicht mehr bezweifelt wer-
den, dass pränatale und postnatale Entwicklung des Kindes eine un-
trennbare Einheit bilden, so dass es sich auch deshalb verbietet, das
Leben in der vorgenommenen Art und Weise aufzuspalten und für
18
Friederike Hoffmann-Klein
Aus materialistischer Perspektive sieht es so aus, als ob
ein Schutz für den angeblichen „Rechtsinhaber“, den Em-
bryo, gar keinen Sinn haben könne und mangels Verletzbar-
keit ein Rechtsträger, dem ein subjektives Recht gegen Ver-
letzungen zustehe, schon begrifflich nicht vorliegen könne.22
Diese Argumentation baut jedoch auf einer unzutreffenden
Voraussetzung auf. Hier zeigt sich die von Bexten kritisierte
Verdinglichung als Folge eines unzureichenden Personver-
ständnisses. Die Bestimmung des Personseins allein aus der
subjektiven Perspektive bestimmter von dem Individuum
wahrgenommener Eigenschaften verkürzt entscheidend den
Blickwinkel und setzt sich dem Vorwurf aus, hierbei eine
objektive und eine subjektive Ebene in unzulässiger Wei-
se gleichzusetzen. Wenn für Merkel damit der Embryo als
Träger eines genuin subjektiven Rechts ausscheidet, so lässt
dies allerdings die Frage noch unbeantwortet, ob ihm nicht
ein solches Recht durch die Rechtsordnung eingeräumt wer-
den kann.
Die Erkenntnis, dass der Mensch um seiner selbst willen
als Person von Anfang an Achtung und Schutz erfährt, weil
er - und dies vom ersten Augenblick seiner Entwicklung an -
„vollständige Substanz“ ist, schließt es aus, die unverlierba-
re Würde des Menschen als positive menschliche Setzung zu
verstehen und damit fehlzudeuten.23 Es geht damit gerade
nicht, wie Merkel unterstellt, um bloße Spezieszugehörig-
keit. Zu Recht wird deshalb eingewandt, dass diese These
die Phase vor der Geburt Einschränkungen zu machen, die sich als
unhaltbar und willkürlich erweisen.
22Merkel, Contra Speziesargument (wie Anm. 13), S. 44.
23Bexten, Was ist der zureichende Grund für die unverlierbare Wür-
de des Menschen?, (wie Anm. 1), S. 120.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
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viel weniger Plausibilität enthält als man ihr zuschreibt.24
Man kann das Leben als biologisches Faktum beschreiben,
daraus folgt jedoch nicht, dass damit bereits eine vollstän-
dige Beschreibung vorliegt. Als Anknüpfungspunkt jedoch
genügt es. Mit der von Bexten entwickelten Argumentati-
on, die über das erweiterte Speziesargument (dass es genü-
ge, dass die personspezifischen Eigenschaften zwar nicht bei
dem Individuum, hier dem Embryo, wohl aber bei der Spe-
zies, zu der dieser gehört, vorhanden seien25) hinausgeht,
lässt sich zeigen, dass es hier nicht um die Frage einer Zuer-
kennung von Rechten im Sinne einer rein positiven Setzung
geht. Der grundlegende Fehler ist, dass allein den besonders
schutzwürdigen menschlichen Eigenschaften normative Be-
deutung für die Zuerkennung subjektiver Rechte zuerkannt
wird.
2.3 Diachronale Identität in ihrer
Bedeutung für die Begründung des
Personseins
Die Übereinstimmung des Embryos in numerischer und -
hinsichtlich seiner ontologischen Dimension - qualitativer
Hinsicht mit dem geborenen Menschen wird durch den Be-
24Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone (wie Anm. 12), S.
206 f.
25Merkel, Pro Speziesargument (wie Anm. 13), S. 44. Merkel be-
zeichnet diesen Gedanken des erweiterten Speziesarguments als die
Argumentation Spaemanns, vgl. Robert Spaemann, Über den Begriff
der Menschenwürde, in: Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimen-
sion des Handelns, Stuttgart 107-122; ders., Wer jemand ist, ist es
immer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2001, 53.
20
Friederike Hoffmann-Klein
griff der diachronalen Identität veranschaulicht.26 Die Be-
trachtung richtet sich hierbei nicht auf eine Identität im
absoluten Sinne - absolut identisch ist ein Gegenstand im-
mer nur mit sich selbst - sondern in einem ontologischen.
Mit dem Verlust dieser „ganzheitlichen“ Betrachtung ge-
rät die qualitative Identität des Embryos mit dem gebo-
renen Menschen aus dem Blick. Die identitätsstiftende Ei-
genschaft wird falsch definiert, nämlich als eine entwickel-
te Eigenschaft erwachsener Personen. Kontinuierliche, d.h.
sowohl beim Embryo als auch dem später geborenen oder
erwachsenen Menschen vorhandene Eigenschaft ist jedoch
die Seele.27 Das Identitätsargument beinhaltet, dass es sich
um ein- und dieselbe Person in unterschiedlichen Entwick-
lungsstadien handelt und dies die Identität begründet. Die
Kritik von Damschen/Schönecker28 missversteht an dieser
Stelle das Identitätsargument, weil die diachronale Realität
nicht beachtet wird. Noch seltener bedacht wird die umge-
kehrte Identitätsbeziehung, die von dem Erwachsenen oder
dem schon größeren Kind aus den Blick zurück richtet und
die Aussage rechtfertigt, dass diese Person mit dem frühe-
ren Embryo „identisch“ ist. Diese Identitätsbeziehung kann
auch mit dem Gedanken beschrieben werden, dass „das spä-
tere Kind“ ohne „das frühere“ nicht existieren würde, ein
26Zum Identitätsbegriff vgl. Damschen/Schönecker, In dubio pro em-
bryone (wie Anm. 12), S. 215 f.
27Bexten (wie Anm. 3), S. 250; die Seele wird von Platon als ei-
ne unsichtbare, immaterielle, geistige, überirdische Wesenheit verstan-
den, vgl. Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 12. Aufl.
1980, S. 118.
28Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone (wie Anm. 12), S.
217.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
21
Mensch existiert nicht ohne sein früheres Selbst. Der Ein-
wand, dass dem Embryo nicht deshalb Würde zukomme,
weil er mit dem späteren Erwachsenen diachronal identisch
sei, sondern weil er Person sei, übersieht, dass die beiden
Fragen auf das Engste zusammenhängen. Entgegen Dam-
schen/Schöneckers Feststellung, dass dies kein Identitätsar-
gument sei, sondern ein Potentialitätsargument, spielt der
Identitätsgedanke hierbei durchaus eine Rolle, weil er er-
klärt, weshalb Embryonen in diesem Stadium bereits Per-
sonen sind. Die zukünftige Entwicklung in die Betrachtung
einbeziehend, kann aufgrund des Gedankens der diachro-
nalen Identität argumentiert werden, dass der Embryo und
der spätere Erwachsene ein- und dieselbe Person sind. Diese
Überlegung ist nicht etwa deshalb entbehrlich, weil, wie die
Autoren meinen, die Menschenwürde des Embryos bereits
mit ihrer Personalität zu begründen sei.
In diesem Zusammenhang wird bisweilen von relativer
Identität gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Embryo
noch nicht der heutige Ehepartner, der heutige Apotheker
ist, dass diese beiden sich allenfalls gleichen.29 Den Embryo
mit dem erwachsenen Menschen hinsichtlich ihrer jeweiligen
Eigenschaften zu vergleichen, bedeutet jedoch, den Iden-
titätsgedanken zu verkennen. Ausgehend von der falschen
Grundannahme, dass es allein bestimmte persontypische Ei-
genschaften seien, die Menschenwürde begründen,30 kann
nur darauf abgestellt werden, dass Embryonen Träger po-
29Ralf Stoecker, Contra Identitätsargument: Mein Embryo und ich,
in: Damschen (wie Anm. 10), S. 129 ff., S. 132 in Anlehnung an Peter
Geach, Reference and Generality, 1962.
30Etwa Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone (wie Anm.
12), S. 231.
22
Friederike Hoffmann-Klein
tentieller Personeigenschaften sind, d.h. solcher Eigenschaf-
ten, die sich in Zukunft entwickeln werden.31 Nicht die Per-
son in der von Bexten herausgearbeiteten Dimension er-
scheint dann als Träger der Eigenschaften, sondern „der le-
bendige menschliche Körper“.32
Allein die persontypischen Eigenschaften vermögen die
Person nicht hinreichend zu beschreiben. Der Embryo ist
nicht potentiell, er ist.33 Ein nicht reduktionistisches Ver-
ständnis der Person, nämlich ein solches, das sie als eine
geistig-substantielle Einheit im Leib sieht, schließt es aus,
den Menschen an seinem Anfang anders zu sehen. Allein ein
substanz-ontologisches Personverständnis vermag der We-
senskonstanz der Person Rechnung zu tragen. Ein solches
Personverständnis legt zugrunde, dass die Person sich zwar
entwickelt im Laufe ihres Lebens, dies jedoch nicht identisch
ist mit der Frage nach ihrem Wesen. Es steht damit in ei-
nem Gegensatz zu dynamischen Personauffassungen, wie sie
etwa auch von Hegel mit seinem dialektischen Personbegriff
vertreten worden sind. Die Person muss sich ihr Personsein
nicht erst aneignen. In einem ontologischen Sinn handelt es
sich vielmehr um Wesensidentität. Das, was die Person ist,
31Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone (wie Anm. 12), S.
235. Ausführlich zu den SKIP-Argumenten die Darstellung bei Ralf
Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 50-58.
32Damschen/Schönecker, In dubio pro embryone (wie Anm. 12), S.
236.
33Damschen/Schönecker, a.a.O, S. 222 f., 221; Georg Scherer, Selbst-
stand und Ganzheit - ein philosophischer Versuch zur Ontogenese des
Menschen, in: Herwig Poettgen (Hrsg.), Die ungewollte Schwanger-
schaft. Eine anthropologische Synopsis, 1982, S. 63 ff., S. 65: Sein
oder Wirklichsein ist keine Eigenschaft, sondern ontologische Grund-
voraussetzung.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
23
war sie immer schon, und sie ist nur das, was sie ist, weil sie
das immer schon war. Es gibt keine Entwicklung zur Person
hin, was die Kritik an den SKIP-Argumenten gerade unter-
stellt. Wer die Person in der Unwandelbarkeit ihres Wesens
begreifen kann, sieht ihr Wesen als Voraussetzung, nicht als
Folge ihrer Entwicklung und ihres Werdens. Dies ist nicht
zuletzt auch eine logische Voraussetzung. Etwas kann sich
nur wandeln, wenn es etwas gibt, das sich wandelt.34
Eine Betrachtung, die allein auf das momentane Entwick-
lungsstadium abstellt, führt in die Irre, weil es wesentlich
zur conditio humana gehört, dass der Mensch zeitbeding-
ter Veränderung unterliegt. Auch die Regelung der Abtrei-
bung und ihre (angebliche) gesellschaftliche Akzeptanz ist
von dem Irrtum getragen, eine Beschränkung des Lebens-
rechts „des Embryos“35 in der Frühphase der Schwanger-
schaft sei lediglich eine solche innerhalb bestimmter Zeit
und eine weitgehende Schutzwürdigkeit bleibe im Übrigen
erhalten.
Die gestattete Tötung während der ersten drei Monate ist
jedoch keine vorläufige, sondern eine endgültige Suspension
eines Rechts, das nach Ablauf der Frist nicht wieder auflebt.
Die Anknüpfung an ein aktuelles Bewusstsein und Überle-
34Vgl. a. Scherer (wie Anm. 33), S. 70: Ohne die ontologische Ganz-
heit vom Anfang seiner Existenz an könnte der Mensch keine Lebens-
geschichte haben, würde für diese ein Subjekt fehlen, dem sie in ihrer
Unabgeschlossenheit zugeordnet werden kann. Widersprüchlich hin-
gegen Dreiers Unterscheidung zwischen menschlichem Leben als con-
ditio sine qua non, aber nicht conditio per quam des Schutzes der
Menschenwürde nach Art. 1 GG, wie Anm. 86, Rn. 69.
35Der medizinische Fachbegriff wird teilw. in diesem Zusammenhang
bewusst verwendet, um eine geringere Schutzwürdigkeit zu suggerie-
ren.
24
Friederike Hoffmann-Klein
bensinteresse führt zum falschen Ergebnis, weil das Überle-
bensinteresse immer auch auf den Fortbestand der Bedin-
gungen für das eigene Überleben gerichtet sein muss.36 Zu
Recht lässt sich deshalb in diesem Sinne von einem Über-
lebensinteresse des Embryos als einem moralisch relevanten
Interesse ausgehen.37
Schließlich trägt auch das „Kronprinzessinnenargument“38
nicht zu einer Entkräftung des Potentialitätsgedankens bei.
Dieses übersieht bereits, dass das „Kronzprinzessin-Sein“,
anders als die vorgeburtliche Phase, nicht in jedem Fall ein
notwendiges Zwischenstadium darstellt.39
2.4 In dubio pro embryone
In überzeugender Weise spricht der Gedanke In-dubio-pro-
embryone dafür, von der Personalität des Embryos auszuge-
hen. Das Argument lautet: Wenn es ein moralisches Gesetz
gibt, das eine Gruppe von Wesen schützt, man jedoch nicht
sicher ist, ob ein bestimmtes Wesen zu dieser Kategorie ge-
hört, wobei es zugleich hinreichend starke Gründe für diese
Subsumtion gibt, dann ist im Zweifel davon auszugehen.40
Interessant ist die neue Perspektive, welche diese Zweifels-
36Vgl. Schockenhoff, S. 18; Ludger Honnefelder, Der Streit um die
Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch, 100, 1993, S. 246-
265, 256 ff.; Günter Rager (Hrsg.), Beginn, Personalität und Würde
des Menschen, 1997, S. 207-213.
37Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 19.
38Damschen/Schönecker (wie Anm. 12), S. 239.
39Siehe das Beispiel König Georgs VI., der nach der Abdankung
seines Bruders Eduard VIII. König des Vereinigten Königreichs wurde,
ohne jemals Prince of Wales gewesen zu sein.
40Damschen/Schönecker (wie Anm. 12), S. 250 ff.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
25
betrachtung ermöglicht: Wenn es so wäre, dass Embryonen
Würde besitzen, dann wäre ihre Tötung ebenso verwerflich
wie die Tötung eines Erwachsenen. Dieser Aussage zuzu-
stimmen sollte auch für diejenigen leicht sein, die dem Sta-
tus des Embryos kritisch gegenüberstehen.
Das In-dubio-Argument nennt auch Johannes Paul II.41
Deutlich lässt sich erkennen, dass Zweifel am Würdesta-
tus menschlicher Embryonen vor allem interessengeleitet
sind.42 Dabei spielt eine Rolle, dass Embryonen üblicher-
weise nicht sichtbar sind und vielleicht ganz zu Anfang noch
kein menschliches Aussehen haben.43 Während das Potenti-
al, sich zu einem Menschen mit den für das Personsein cha-
rakteristischen Eigenschaften zu entwickeln, dann relevant
sein soll und seine Beeinträchtigung moralisch verwerflich,
41Johannes Paul II., Evangelium Vitae, Artikel Nr. 60.
42Damschen/Schönecker (wie Anm. 12), S. 255. Dies wird von man-
chen Autoren in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, vgl. etwa
Philippa Foot, Das Abtreibungsproblem und die Doktrin der Doppel-
wirkung, in: Um Leben und Tod, Moralische Probleme bei Abtrei-
bung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, hrsg. von
Anton Leist, 1992, S. 196 ff. Dieses scheinbare Dilemma, das sie zu
erkennen glaubt und das uns zögern lasse, am Anfang des Lebens von
einem menschlichen Wesen auszugehen, ist Ausdruck eines logischen
Fehlschlusses (Paralogismus). Wie weit dieser Irrtum reicht, zeigt sich,
wenn die Autorin die absichtliche Tötung eines geborenen Kindes auch
zur Rettung der Mutter als verwerflich ansieht, während sie dies bei
einem ungeborenen Kind (kurz vor seiner Geburt) als absurd bezeich-
net (S. 210); vgl. Einleitung, S. 14.
43Vgl. etwa Ralf Stoecker (wie Anm. 29), S. 132, der den aus seiner
Sicht gegebenen geringeren Achtungsanspruch des Embryos im Mut-
terleib gegenüber dem Embryo in vivo damit begründet, dass ersterer
nicht sichtbar sei, in Anlehnung an Peter Geach, Reference and Ge-
nerality, 1962.
26
Friederike Hoffmann-Klein
wenn etwa die Schwangere das künftige Kind durch Dro-
genkonsum schädigt,44 - mit der Begründung, dass damit
das Potential, ein langes, gesundes Leben zu führen, beein-
trächtigt werde, soll dem Potentialitätsgedanken dann keine
Bedeutung zukommen, wenn es um das Leben selbst geht.
Hinter dieser Inkonsequenz lässt sich unschwer ein interes-
sengeleiteter Ansatz erkennen, der auch bisweilen als solcher
ausdrücklich benannt wird, etwa wenn thematisiert wird,
dass eine weitere Ausdehnung des Lebensschutzes nach dem
Grundsatz in dubio pro embryone einen hohen moralischen
(!) Preis hätte, nämlich die reproduktive Freiheit in Frage
zu stellen.45
In Art. 1 Abs. 1 GG wird die Menschenwürde bewusst an
den Anfang gestellt. Ungeachtet dieser rechtlichen Normie-
rung in unserer Verfassung und in vielen anderen Menschen-
rechtsdokumenten46 besteht über die Anerkennung der Men-
schenwürde keine Einigkeit mehr. Dies hängt mit einem re-
duktiven Seinsverständnis zusammen, das die Einsicht in
das, was das Wesen des Embryos ausmacht, erschwert.
Um die normative Gewährleistung der Menschenwürde zu
verstehen, genügt es, von einem Minimalbegriff auszugehen,
der den Kernbereich der Menschenwürde umfasst.47 Dieser
setzt ein Verständnis von Menschenwürde als einer Gewähr-
44Bettina Schöne-Seifert, Contra Potentialitätsargument: Probleme
einer traditionellen Begründung für embryonalen Lebensschutz, in:
Damschen (wie Anm. 10), S. 169 ff., 182.
45Schöne-Seifert (wie Anm. 44), S. 183.
46Beispielsweise Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention,
Art. 6 der UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes.
47Ein erweitertes Verständnis würde solche Bereiche wie Sinnver-
wirklichung und menschenwürdige Lebensbedingungen umfassen.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
27
leistung voraus, die sich keiner Zuschreibung oder Festle-
gung durch die Gesellschaft oder die Rechtsordnung ver-
dankt, sondern als vorausliegendes Fundament anerkannt
wird. Nach diesem Verständnis ist der Mensch ausnahms-
los um seiner selbst willen zu achten.48 Mit diesem norma-
tiven Kerngehalt der Menschenwürde ist nicht vereinbar,
die Würde an eine bestimmte Entwicklungsstufe oder an
das Vorhandensein bestimmter Eigenschaften zu knüpfen.49
Dann genügt die naturale, formale Zugehörigkeit zur biolo-
gischen Spezies Mensch, um Menschenwürde zu begründen.
Dies stellt keinen Biologismus dar, weil es sich nicht um eine
umfassende Beschreibung des Menschseins, sondern um ein
gleichsam erstes Erkennungsmerkmal handelt. Die Würde
des Menschen von Eigenschaften abhängig zu machen, hie-
ße hingegen nichts anderes, als seinen Wert um seiner selbst
willen, aufgrund seines bloßen Daseins, zu verneinen.
Die Kritik an den SKIP-Argumenten, die in einem Ge-
gensatz zum klassischen Menschenrechtsethos steht, wonach
jedem Menschen allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur
menschlichen Spezies Schutz und Würde zukommt, verkehrt
den Gedanken der Gleichheit in sein Gegenteil, wenn statt
der Gleichheit aller Menschen das Erfordernis eines sub-
jektiven Interesses und bewusster Präferenzen formuliert
wird. Schockenhoff spricht deshalb bezüglich des Spezie-
sarguments von „geschliffener Wortmünze, deren suggesti-
ver Wirkung man sich im ersten Moment nicht entziehen
kann“.50 Einer Anknüpfung des Personseins an bestimm-
48Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 21.
49Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 12.
50Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 17.
28
Friederike Hoffmann-Klein
te moralisch relevante Eigenschaften liegt jedoch derselbe
Fehler wie einem rassistischen und sexistischen Denken zu-
grunde, indem aus der Gesamtheit der menschlichen Lebe-
wesen bestimmte Menschen aufgrund bestimmter Merkmale
ausgesondert werden. Die Klasse der „Selbstbewusstseins-
Besitzer“ gegen die Übrigen. Man könnte deshalb von „Inter-
essen-Speziezismus“ sprechen.51 Nach Schockenhoff handelt
es sich bei dem Verweis auf die Verwerflichkeit von Rassis-
mus und Sexismus nicht um einen rationalen Einwand.52 Zu
behaupten, die Anknüpfung an die Tatsache der Spezieszu-
gehörigkeit sei in gleicher Weise unzulässig wie eine Bezug-
nahme auf Eigenschaften der Rasse oder des Geschlechts
(Rassismus, Sexismus), geht schon deshalb an der Sache
vorbei, weil es bei ersterem um das genaue Gegenteil von
Diskriminierung geht. Darüber hinaus wird mit dem An-
knüpfen an bestimmte entwickelte Eigenschaften gleicher-
maßen eine innerspezifische Differenzierung vorgenommen.
Es bedarf eines „Unparteilichkeitsstandpunktes“, um die
Anerkennung von Rechten nicht subjektivem Belieben und
subjektiver Willkür zu überlassen. Diese Unparteilichkeit
schließt von vornherein aus, nur die Perspektive der bereits
Geborenen zu berücksichtigen. Man kann sogar annehmen,
dass die Frage nach dem moralischen Status des Embryos
allein von dem Interessenstandpunkt bereits lebender Per-
sonen aus gar nicht „vernünftig“ entschieden werden kann.53
Schockenhoff verlangt deshalb, die partikulare Perspektive
zu verlassen und den Interessenkonflikt zwischen „mögli-
51Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 17.
52Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 17.
53Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 25.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
29
chen“ und „wirklichen“ Personen auf der Ebene gemeinsa-
mer Vernunft zu lösen.
Das Abstellen auf den Beginn des Lebens als Mensch
bedeutet keine Reduzierung des Menschen auf bloße Bio-
logie. Es geht nicht um die Frage, ob das genetische Er-
be einen Menschen erschöpfend beschreiben kann, sondern
um die Anerkennung der Existenz eines Menschen oder, in
Schockenhoffs Worten, der im biologischen Leib sichtbaren
Tatsache der neuen Realität eines menschlichen Lebens.54
Der Vorwurf des Biologismus an dieser Stelle übersieht „die
unhintergehbare Leibgebundenheit menschlicher Freiheit“55
und menschlicher Existenz, die anthropologische Grundver-
fasstheit des Menschen. Lebensrecht, Würde und Schutz
kommen jedem Menschen vom Ursprung seiner Existenz
an allein deshalb zu, weil das physische Leben notwendi-
ge, unhintergehbare Voraussetzung für das Werden und die
Entfaltung der Person ist.56
Gegenüber einer Sichtweise, die von einer zumutbaren
Einschränkung des Schutzes für eine gewisse Zeit ausgeht,
lässt sich mit Schockenhoff einwenden, dass es für den Em-
bryo „nicht um ein Mehr oder Weniger an zumutbaren Be-
schränkungen“ geht, sondern um das Ganze seiner Existenz.
Das Konzept einer graduellen Schutzwürdigkeit, eines abge-
stuften Würdeschutzes57 ist deshalb nichts anderes als der
in eine wissenschaftlich formulierte Theorie gekleidete Ver-
54Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 27; Kant, Die Metaphysik der Sit-
ten, in: Akademie-Ausgabe VI, hrsg. v. Preußische Akademie der Wis-
senschaften, Berlin 1907 (EA 1797), § 28 (AB 112 f.).
55Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 27.
56Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 27.
57Siehe unten S. 12 ff.
30
Friederike Hoffmann-Klein
such, die Interessen Geborener durchzusetzen. Die Schutz-
würdigkeit auch der Anfangsphase menschlichen Lebens an-
zuerkennen ist nicht nur in logischer Hinsicht absolut not-
wendig. Sie ergibt sich gleichermaßen unter Einbeziehung
der Perspektive der Ungeborenen. „Wenn wir heute als mo-
ralische Subjekte und Träger unveräußerlicher Menschen-
rechte voreinander Anerkennung fordern, so müssen wir sie
nach dem Gesetz der Gleichursprünglichkeit auch denjeni-
gen einräumen, die sich zum jetzigen Zeitpunkt in unserer
damaligen ungesicherten Lage befinden, in der Schutz, Hil-
fe und Förderung erfahren zu haben wir heute begrüßen“,
fordert deshalb Schockenhoff.58
Für Schockenhoff hängt die Frage, ob dem Embryo Men-
schenwürde zukommt, nicht von der ontologischen Frage ab,
ob der Mensch in diesem Stadium seiner Entwicklung schon
Person ist. Selbst wenn diese Frage nach dem ontologischen
Status des Embryos offenbleiben müsste, so Schockenhoff,
würde dies an der positiven Antwort auf die Frage der Schutz-
würdigkeit und des Schutzanspruchs für den Embryo nichts
ändern.59 Schockenhoff sieht hierin eine Regel der Beweis-
lastverteilung. Nicht der Embryo muss nachweisen, dass er
Person ist, um den Schutz der Menschenwürde zu erhalten.
Ein „biologistisch-naturalistischer Fehlschlusses“ liegt schon
deshalb nicht vor, weil es nach der normativen Gewähr-
leistung der Menschenwürde gerade nicht auf irgendwelche
58Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 28.
59Schockenhoff, a.a.O., S. 29 unter Hinweis auf die Begründung der
Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor
dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflan-
zung I, 1, zit. nach Stephan Wehowsky (Hrsg.), Lebensbeginn und
menschliche Würde, Frankfurt a.M. 1987, S. 11.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
31
weiteren empirischen Eigenschaften ankommt, sondern der
Mensch als solcher zu schützen ist.60 Aus der Würdegaran-
tie ergibt sich ein streng formales Differenzierungsverbot,
welches den „Status ausnahmsloser Gleichwertigkeit aller
Angehörigen der menschlichen Spezies“ begründet.61 Wie
das BVerfG im zweiten Abtreibungsurteil festhält, erweist
sich Art. 1 Abs. 1 GG als ein „umfassend gedachter Respekt
vor dem Humanum schlechthin“62. Der Mensch ist „Zweck
an sich selbst“, und als solcher steht ihm ein unverletzlicher
sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu.63 Dies ist Inhalt
der normativen Gewährleistung des Art. 1 Abs 1 GG.
Die dem Menschen geschuldete Achtung setzt keine par-
tikulare religiöse Überzeugung voraus, sondern stellt, an-
knüpfend an seine anthropologische Grundverfassung, eine
selbstverständliche Forderung für eine demokratische Ge-
sellschaft dar.64 Personsein ist kein Etikett, das wir denen
zusprechen, die unseren Leistungserwartungen entsprechen.
Der Begriff der inalienable rights aus der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung drückt diesen Gedanken in voll-
60Müller-Terpitz (wie Anm. 31), S. 343; Josef Isensee, in: Otfried
Höffe, Gentechnik und Menschenwürde: an den Grenzen von Recht
und Ethik, 2002, S. 37;
61Müller-Terpitz (wie Anm. 31), S. 344, S. 239 ff.; Christian Hill-
gruber, Das Vor- und Nachleben von Rechtssubjekten, JZ 1997, 975;
Höfling, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 1
Rn. 46.
62BVerfG, Urt. v. 28.5.1993, 2. Abtreibungsurteil, BVerfGE 88, 203,
252.
63A.a.O.; vgl. a. Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als
Verfassungsbegriff, Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, 1990, S. 30, 35, 44 f.
64Schockenhoff (wie Anm. 18), S. 31.
32
Friederike Hoffmann-Klein
kommener Weise aus.65
3 Eine Frage der Rückwirkung?
Abtreibung tötet ein Kind. Es geht um nichts weniger als
das, wie es in ergreifender, schöner Weise in dem Pro-Life-
Video Aaron66 deutlich wird. Wenn ein Kind abgetrieben
wurde, dann fehlt es, nicht nur als theoretische Möglich-
keit, als verpasste Chance, sondern in einem ganz und gar
realen Sinn. Im Bewusstsein vieler Menschen heute scheint
es dagegen um nicht mehr als eine Entscheidung zu gehen:
„We decided not to have him“. Die Trauer der Mutter um
ein nicht geborenes Kind ist jedoch real. Die Verantwortung
für ein ungeborenes Kind besteht vom ersten Augenblick an.
Diese Verantwortung trifft die Gesellschaft, die Rechtsord-
nung, aber niemanden unmittelbarer, persönlicher als die
Mutter.
Als grundsätzlich verfehlt sind deshalb Vorstellungen an-
zusehen, die die Frage des Würdeschutzes ungeborenen Le-
65Präambel der amerikanischen Declaration of Independence: We
hold these truths to be self-evident, that all men are created equal,
that they are endowed by their Creator with certain inalienable rights,
Skathat among these are Life, Liberty and the Pursuit of Happiness.
Ähnliches bezeichnet der Begriff der inherent rights, etwa Art. 6 UN-
Kinderrechtskonvention. Die deutsche Übersetzung als „angeborenes
Recht“ darf nicht in der Weise fehlgedeutet werden, dass damit auf
eine Voraussetzung der Geburt verwiesen sein soll. Gemeint sind auch
mit diesem Begriff die unveräußerlichen Rechte, die inalienable rights,
Rechte, die dem Menschen qua seines
Menschseins zukommen.
66https://www.youtube.com/watch?v=Q0XjX-y8NoI.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
33
bens unter dem Gesichtspunkt einer Vor- oder Rückwirkung
diskutieren.67 Der nasciturus leitet sein Recht, zu sein, nicht
von der Mutter ab, sondern besitzt es aus sich selbst, qua
eigenem Recht, kraft seiner Existenz, er ist autonom. In
rechtlicher Hinsicht ist er Träger der Menschenwürde und
des Rechts auf Leben. Wenn heute vielfach die Frage der
Abtreibung gar nicht mehr als ein Konflikt zwischen den In-
teressen der Schwangeren und dem Leben des ungeborenen
Kindes wahrgenommen wird,68 so liegt hier der Wunsch zu-
grunde, Abtreibung zu rechtfertigen.69 Zweifel an dem Sta-
tus des Embryos werden deshalb aufrechterhalten oder be-
wusst gesetzt. Einer solchen Sichtweise liegt der gedankliche
Fehler zugrunde, dem aktuellen Entwicklungsstand über-
67„Vorwirkung“ in Parallele zum postmortalen Würdeschutz, Jörn
Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro, JZ
2001, 989, 992; Udo Di Fabio, in: Theodor Maunz/ Günter Dürig, GG,
Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28; Lorenz, ZfL 2001, 38, 44 f.; Müller-Terpitz
(wie Anm. 31), S. 337. Müller-Terpitz spricht auch von „Inklusion“,
a.a.O., S. 224.
68Vgl. Anton Leist, Diskussionen um Leben und Tod (wie Anm. 42),
Einleitung, S. 14, 31. Es wird von einer traditionellen Diskussion des
Schwangerschaftskonflikts gesprochen, die den moralischen Konflikt
zwischen dem Leben der Mutter und dem Leben des Kindes betrachtet
habe, ersetzt durch eine „neue“ Diskussion, bei der sich die Lösung des
Konflikts allein an dem Problem des moralischen Status orientieren
soll.
69Soweit hierfür behauptet wird, der nasciturus könne nicht vollwer-
tiger Träger der Menschenwürde sein, weil sonst das Beratungsmodell
nicht verfassungskonform sein könne, vgl. etwa Ipsen, JZ 2001, 989,
992, liegt ein Zirkelschluss vor; noch weitergehender Merkel (wie Anm.
13), S. 51, der in der rechtlichen Regelung der Abtreibungsproblema-
tik und deren gesellschaftlicher Akzeptanz den Beweis einer fehlenden
moralischen Verbotsnorm gegen die Tötung von Embryonen sieht.
34
Friederike Hoffmann-Klein
mäßige Bedeutung einzuräumen. Entwicklung ist eine ver-
änderliche Größe und liegt deshalb auf einer anderen Ebene
als die Kategorien der Existenz und der Identität. Hiermit
eng zusammen hängt die „Unlogik“, die darin liegt, dass
der Anfang des menschlichen Lebens ausgeblendet, für irre-
levant erklärt wird, indem man glaubt, menschliches Leben
für einen bestimmten Zeitraum aus dem Schutzbereich her-
ausnehmen zu können.
4 Paradigmenwechsel in der
juristischen Kommentarliteratur
4.1 Die Gewährleistungen der Art. 1 Abs.
1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Art. 1 Abs. 1 GG stellt die Unantastbarkeit der menschli-
chen Würde an die Spitze unserer grundgesetzlichen Wer-
tordnung. Damit wird eine verfassungsrechtliche Tabuzone
errichtet, die nicht allein den Staat und seine Organe, son-
dern auch jeden Privaten umfasst.70 Eine verfassungsrechtli-
che Rechtfertigung eines Eingriffs scheidet damit aus.71 Art.
1 Abs. 1 GG kann, anders als die ohne Gesetzesvorbehalt
gewährleisteten Grundrechte nicht durch verfassungsimma-
70Müller-Terpitz (wie Anm. 31), S. 346; Starck, in: Hermann v. Man-
goldt/Friedrich Klein/ Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3.
Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1 Rn. 33; Klaus Stern, Das Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 2010, S. 29 f. Zu beachten:
Nach Art. 1 Abs. 3 GG verpflichten die nachfolgenden Grundrechte
den Staat.
71Müller-Terpitz (wie Anm. 31), S. 346.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
35
nente Schranken konkretisiert werden. Art. 1 Abs. 1 GG ist
auch einer Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG
entzogen. Die Norm ist „oberster Rechtswert“ der Verfas-
sung.
Dass Art. 1 - im Unterschied zu den Grundrechten -
keiner Abwägung unterliegen sollte, ergibt sich aus seiner
Entstehungsgeschichte. Mit „unantastbar“ ist auch dies ge-
meint. Das Schutzgebot der Menschenwürde gilt universal,
sie ist „unantastbar“.72 Auch wenn die Menschenwürdega-
rantie ihre normative Geltungskraft aus vorpositiver Grund-
lage ableitet, kommt ihr eine positivrechtliche Bedeutung
zu. Ihre Normierung in Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt sie
zum verbindlichen Maßstab allen staatlichen Handelns. Die
normative Geltungskraft erstreckt sich auch auf den außer-
staatlichen, den gesellschaftlichen Bereich. Aus Art. 1 Abs.
1 GG leitet sich die Verpflichtung ab, eine Gesamtrechtsord-
nung zu gestalten, die auch im Verhältnis der einzelnen zu-
einander eine Verletzung der Menschenwürde ausschließt.73
Obwohl das BVerfG die Beratungsregelung im 2. Abtrei-
bungsurteil für verfassungsgemäß erklärt hat, geht sowohl
das Mehrheitsvotum als auch das Minderheitsvotum davon
aus, dass sich der Grundrechtsschutz grundsätzlich auf den
ungeborenen Menschen erstreckt. Anders als etwa der U.S.
Supreme Court in der folgenreichen Entscheidung Roe v.
Wade74, der ein verfassungsrechtlich geschütztes Lebens-
72Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unan-
tastbar, F.A.Z. vom 3.9.2003, Nr. 204, S. 33.
73Von Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl.,
Rn. 42.
74Supreme Court of the United States, Entscheidung v. 22.1.1973,
410 U.S. 113 (1973).
36
Friederike Hoffmann-Klein
recht mit der Begründung verneinte, dass der ungeborene
Mensch nicht Person i.S. der Verfassung sei.75
Die Erkenntnis des Eigenwertes menschlichen Lebens führt,
auch ohne dass es hierzu schon des Rückgriffs auf eine tran-
szendente Sinndeutung bedarf, in vorkonstitutionelle Kate-
gorien. Auf solchen Kategorien baut jedoch das Grundge-
setz in seinem Grundrechtsteil und mit der Garantie der
Menschenwürde auf.76 Eine naturrechtliche anstelle einer
rein positivistischen Betrachtung ist deshalb Art. 1 Abs.
1 GG durchaus angemessen. Der Inhalt der Menschenwür-
de lässt sich beschreiben, indem auf die geistige Natur des
Menschen Bezug genommen wird. Für die Zuschreibung von
Menschenwürde kommt es dabei nicht auf die jeweils kon-
krete Verwirklichung bei einem Menschen an, sondern auf
die „gleiche abstrakte Möglichkeit“, die allen Menschen zu-
eigen ist. Die potentielle Fähigkeit zur Verwirklichung ge-
nügt deshalb.77 Dürig schreibt: „Im Augenblick der Zeugung
entsteht der neue Wesens- und Persönlichkeitskern, der sich
fortan nicht mehr ändert. In ihm ist alles Wesentliche und
Wesenhafte . . . dieses Menschen beschlossen. Er treibt zur
Entfaltung dessen, was keimhaft in ihm liegt und bewirkt,
dass der Mensch, mag er wachsen oder vergehen, stets er
75Dies wird zu Recht als Sprachregelung bezeichnet, Rolf Stür-
ner, Die Unverfügbarkeit ungeborenen menschlichen Lebens und die
menschliche Selbstbestimmung, JZ 1990, 709, 718; Brugger spricht von
„Denkverzicht“ im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Bewertung
des Lebensinteresses des Ungeborenen durch den U.S. Supreme Court
im Fall Roe v. Wade, Winfried Brugger, Abtreibung - ein Grundrecht
oder ein Verbrechen?, NJW 1986, 896, 897S.
76Stürner (wie Anm. 75), S. 719.
77Böckenförde (wie Anm. 72), S. 3.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
37
selber bleibt.“78
4.2 Das Konzept einer prozesshaften
Betrachtung des Würdeschutzes mit
entwicklungsabhängiger Intensität
eines bestehenden Achtungs- und
Schutzanspruchs
An diesem absolut gewährleisteten Schutz setzt nun das
Konzept des abgestuften Würdeschutzes an. Nachdem die
Kommentierung der Artikel 1 und 2 GG jahrelang in ver-
schiedenen Auflagen unverändert blieb, ungeachtet der Neu-
bearbeitung anderer Grundgesetzartikel in dieser Zeit, und
sich damit noch auf dem Stand von 1958 befand, nimmt
Matthias Herdegen im Jahr 2003 eine Neubearbeitung vor,
die Ernst-Wolfgang Böckenförde als historische Zäsur und
als „Epochenwechsel“ beschreibt.79 Der philosophisch-welt-
anschauliche Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Deu-
tung der menschlichen Natur wirkt sich hier auch für den
rechtlichen Bereich aus. Die bisherige Zurückhaltung be-
züglich einer Neukommentierung war dem Ansehen dieser
beiden Artikel geschuldet, die als „das ideelle und normati-
ve Grundgerüst“80 galten. Mit der Neukommentierung von
Herdegen und ihm folgend Horst Dreier wird erstmals die
Menschenwürde einer Abwägung zugänglich gemacht. Böcken-
förde urteilt:
„Die Menschenwürde als rechtlicher Begriff
wird ganz auf sich gestellt, abgelöst (und abgeschnitten) von
78Böckenförde, a.a.O.
79Böckenförde, a.a.O.
80Böckenförde, a.a.O.
38
Friederike Hoffmann-Klein
der Verknüpfung mit dem vorgelagerten geistig-ethischen
Inhalt, der dem Parlamentarischen Rat präsent und für Dü-
rig so wichtig war. Das, was den naturrechtlichen Gehalt der
Menschenwürde ausgemacht hat, wird bei Herdegen zum
bloßen „geistesgeschichtlichen Hintergrund“.
Entsprechend diesem gewandelten Verständnis wandelt
sich auch der Charakter der Kommentierung dieser Norm.
Jetzt geht es nicht mehr in erster Linie um die Darstellung
des Fundaments, auf dem diese und die gesamte Verfassung
ruhen soll (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG), sondern um die Auswer-
tung und Systematisierung der Rechtsprechung und Litera-
tur. Indem Art. 1 Abs. 1 GG als sowohl objektivrechtliche
Fundamentalnorm als auch subjektivrechtlicher Anspruch
verstanden wird, gerät auch diese Norm in Konkurrenz zu
anderen Rechten. Dies führt dazu, Art. 1 GG einer Abwä-
gung zugänglich zu machen und letztlich zu relativieren.
Der positive Begriff der Differenzierung wird hiermit zu ei-
nem Einfallstor für einen rechtlichen Umgang, der letztlich
nichts anderes als eine Einschränkung bedeutet.
Während für den geborenen Menschen nach wie vor gel-
ten soll, dass die Zugehörigkeit zur Spezies ausreicht, um
seine Menschenwürde bejahen zu können, wird dies beim
ungeborenen Menschen nun als problematisch dargestellt,
als
„Speziezismus“ kritisiert und ohne wirkliche Begrün-
dung verneint. Die vorgeburtliche Phase, irreführend als
„frühe und früheste Formen menschlichen Lebens“ bezeich-
net, wird damit in ihrer nicht-kontingenten Dimension aus-
geblendet.
Während in der Grundgesetz-Kommentierung bei von Man-
goldt / Klein / Starck aus dem Jahr 1985 betont wurde,
dass Träger der Menschenwürde alle Lebewesen seien, die
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
39
von Menschen gezeugt worden sind,81 wird nunmehr die Ge-
währleistung der Menschenwürde von der „Fähigkeit zum
geistig-seelischen Werterlebnis“ abhängig gemacht. Inter-
essant ist der damalige Hinweis, dass die weite Definition
Ausdruck von Bescheidenheit sein soll, weil es dem Men-
schen nicht anstehe, per definitionem Würde zu versagen.
Voraussetzung für die Gewährleistung von Menschenwürde
war nach bisherigem Verständnis auch nicht, dass sich der
Träger dessen bewusst ist. Aus heutiger Sicht erstaunt, mit
welcher Selbstverständlichkeit dies in den 1980-er Jahren
noch vertreten wurde. Dass dies nunmehr in Frage gestellt
wird, weist auf einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel
hin, der die Fundamente unserer Rechtsordnung berührt.
Auch die philosophische Begründung stand in der dama-
ligen juristischen Kommentierung nicht in Frage, wenn es
hieß, dass „die von Anfang an im menschlichen Sein ange-
legten Möglichkeiten genügen, um Würde zu begründen“82.
Ausdrücklich bejaht wird die Geltung dieser Aussage auch
für den nasciturus.83 Unterschieden wird lediglich zwischen
der unverlierbaren ontologischen Würde und einem gleich-
wohl möglichen würdelosen Verhalten. Damit ist gemeint,
dass auch Gewaltverbrecher ihre ontologische, aus dem Sein
81Von Mangoldt / Klein / Starck (wie Anm. 70) Art. 1 Abs. 1, Rn.
14.
82Von Mangoldt / Klein /Starck (wie Anm. 70), Art. 1 Abs. 1 Rn.
14.
83Unter Verweis auf Dürig, AöR
81
(1956), S.
126; Dürig in:
Maunz/Dürig, GG, 1958, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24 m.w.N.; BVerfGE 39, 1,
41, 43; Nipperdey in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrech-
te, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II (1954),
S. 4.
40
Friederike Hoffmann-Klein
folgende Würde nicht verlieren. Von einem würdelosen Men-
schen zu sprechen, berührt diese Dimension nicht.84 Bei ei-
nem Straftäter, der für schwerste Angriffe auf Leib oder Le-
ben anderer verantwortlich ist, kann die Schranke, die durch
den Schutz seiner Menschenrechte gezogen ist, eine weni-
ger restriktive sein als in anderen Fällen. Verfassungsrecht-
licher und ontologischer Würdeschutz sind also deckungs-
gleich. Oder anders ausgedrückt: Der verfassungsrechtliche
Würdeschutz ist ein ontologischer.85 Dass Menschenwürde
nicht allein dem würdevoll Handelnden zukommt, erklärt
sich auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung
mit der NS-Diktatur. Art. 1 GG liegt kein soziologisches,
sondern ein ontologisches Würdeverständnis zugrunde.
Herdegen und Dreier gehen nun davon aus, dass die ver-
schiedenen Menschenwürdetheorien86 auf das ungeborene
Leben nicht ohne Weiteres anwendbar sind. Auch den Per-
sonbegriff könne man nur „unter ziemlicher Verkennung von
Intentionen und Voraussetzungen seiner Philosophie auf vor-
geburtliches Leben beziehen“.87
84Siehe ausführlicher bei Raphel Bexten (wie Anm. 3); ders., Was
ist der zureichende Grund für die unverlierbare Würde des Menschen?
(wie Anm. 1).
85Vgl. Peter Badura, Generalprävention und Würde des Menschen,
JZ 1964, 337, 341 f.
86Ausführlich zu den verschiedenen Theorien der Begründung von
Menschenwürde bei Hans Jörg Sandkühler, Menschenwürde und Men-
schenrechte, 2014, S. 28 ff.; Dreier Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl.
2013, Rn. 57-59.
87Dreier (wie Anm. 86), Rn. 83, 85; erstmals 2. Aufl. 2004; Herdegen,
in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand 57. Erg.lieferung
2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 62: Begründung allein mit den als Anlage
vorhandenen Fähigkeiten möglich. Auch wenn sich diese Aussage kon-
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
41
Während für den geborenen Menschen Menschenwürde
(allein) aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit angenommen
wird, gilt diese Begründung beim ungeborenen Menschen
als verwerflich. Für den geborenen Menschen darf festgehal-
ten werden: „Die allen Menschen als Gattungswesen zukom-
mende Würde hängt nicht an irgendwelchen geistigen und
körperlichen Fähigkeiten des einzelnen oder sozialen Merk-
malen.“88 Hierfür kann auf den Satz des höchsten deutschen
Gerichts verwiesen werden: „Menschenwürde in diesem Sin-
ne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Per-
son, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen.
Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften,
seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch
dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen
Zustands nicht sinnhaft handeln kann.
Selbst durch „unwürdiges“ Verhalten geht sie nicht verlo-
ren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletz-
bar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.“89
Wenn Menschenwürde jedoch unabhängig von geistiger und
körperlicher Entwicklung, von persönlicher Lebensleistung
oder einer erfolgreichen Identitätsbildung gewährleistet ist,
so wäre hiermit bereits alles Notwendige gesagt, um den
Würdeschutz auch auf den ungeborenen Menschen bezie-
hen zu können.
Die Neukommentierung bei Herdegen und Dreier verlässt
kret auf den Schutz der Menschenwürde in der pränidativen Phase,
also den Embryonenschutz und die strengen Regelungen des ESchG,
bezieht, kommt dieser Betrachtung nach Auffassung der Autoren all-
gemeine Gültigkeit für das ungeborene Leben zu.
88Herdegen, (wie Anm. 87), Art. 1 Abs. 1 Rn. 52.
89BVerfGE 87, 207, 228.
42
Friederike Hoffmann-Klein
jedoch das Paradigma einer absoluten Geltung der Men-
schenwürde und vertritt stattdessen ein Konzept des abge-
stuften Würdeschutzes. Dabei soll hinsichtlich der Art und
Weise des Würdeschutzes differenziert werden. Während auf
der einen Seite zwar betont wird, dass es bei der absoluten
Geltung der Menschenwürde bleibe - mit der wenig über-
zeugenden Behauptung, es gehe nicht um Stufungen der
Menschenwürde als solcher - wird von den beiden Autoren
auf der anderen Seite eine situationsbedingte Konkretisie-
rung gefordert. Herdegen sieht den Würdeschutz des Em-
bryos in Abhängigkeit von seinem Heranreifen im Mutter-
leib. Damit wird der Achtungs- und Schutzanspruch grund-
sätzlich zwar auch für das ungeborene Leben angenommen,
er besteht jedoch nach dieser Auffassung in „entwicklungs-
abhängiger Intensität“. Während das „Ob“ des Würdeschut-
zes prinzipiell bejaht wird, soll es im Hinblick auf das „Wie“
auf Flexibilität ankommen.90
Ausgehend von der Tatsache, dass es über diese Frage eine
rechtliche Diskussion und einen Dissens gibt, folgert Her-
degen eine unterschiedliche Qualität des Würdeanspruchs
bei den „Frühformen“ menschlichen Lebens einerseits und
dem geborenen Menschen andererseits.91 Da sich das Maß
90Zu Recht die Kritik Stürners, JZ 1990, 709, 718, dass es wohl „ehr-
licher“ sei, den verfassungsrechtlichen Status schon von vornherein zu
verneinen, bereits auf der Ebene des „Ob“. Diese konsequentere Lösung
wird von Stürner als Leugnung des Lebensrechtes und seines verfas-
sungsrechtlichen Schutzes bezeichnet - so vertreten von Hoerster, JuS
1989, 172 ff.; Monika Frommel, Das Parlament, 1990, Beilage 14, S.
13. Kritik auch von Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 1. Aufl.
1991, S. 49.
91Herdegen (wie Anm. 87), Rn. 54; 59.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
43
des (gebotenen) Würdeschutzes immer auch nach den Um-
ständen richte (Beispiel Schwerverbrecher), fordert Herde-
gen, dass dies in besonderer Weise für „die Entwicklungsstu-
fen menschlichen Lebens“ gelten müsse. Eine nur scheinbar
plausible Abgrenzung zwischen geborenen Menschen auf der
einen Seite und irgendwelchen „Entwicklungsstufen“ auf der
anderen.92
Herdegens Position gibt vor, dem zunehmenden Entwick-
lungsstand in positiver Weise Rechnung zu tragen. Wür-
deschutz als entwicklungsabhängige Größe. Diese Differen-
zierung nicht dem Schutz des Würdesubjekts, sondern viel-
mehr dazu dient, seine Vernichtung zu rechtfertigen. Die
scheinbar differenzierende, de facto aber diskriminierende
Unterscheidung beruft sich jedoch auf eine „natürliche“ Be-
trachtung ebenso wie auf Jahrhunderte der abendländischen
Geistesgeschichte.93 Denn seit jeher werde bei der Frage, ob
die Menschenwürde verletzt sei, nach dem Entwicklungs-
stand des Opfers differenziert. Selbst wenn dies in dieser
pauschalen Form zuträfe, was nicht der Fall ist,94 wäre hier-
mit nichts darüber ausgesagt, ob eine solche Sichtweise der
Normierung der Menschenwürde in unserer Verfassung Rech-
nung hinreichend trägt.
92Auch Herdegen, JZ 2001, 773, 774 f.; kritisch hierzu Dederer, AöR
127
(2002), 1, 13 f.; Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 2002, S.
52
93Verweisend auf Schmoll, Wann wird der Mensch ein Mensch?, in:
F.A.Z. vom 31.6.2001.
94Müller-Terpitz (wie Anm. 31) weist zutreffend darauf hin, dass
der geistesgeschichtlichen Entwicklung in dieser Frage ohnehin keine
Relevanz zukomme, da sie auf fehlerhaften biologischen Annahmen
beruht, die geschichtliche Entwicklung im Übrigen auch teilweise für
das gegenteilige Ergebnis steht, S. 67 ff., 352.
44
Friederike Hoffmann-Klein
Mit der entwicklungsabhängigen Betrachtung wird die
Menschenwürde relativiert, was jedoch hinter euphemisti-
schen Ausdrücken wie Flexibilität und Schutzbedürftigkeit
zurücktritt. Ein Schutz des frühesten Stadiums menschli-
chen Lebens95 (Ebene des „Ob“) lässt sich nicht verwirk-
lichen, wenn das Leben, und sei es auch nur für eine be-
stimmte Frist, preisgegeben wird. So kritisiert Böckenförde
zu Recht, dass mit der Vorstellung von einem abgestuften
Würdeschutz dessen Abbau zugunsten der eigenen Ange-
messenheitsvorstellungen des Norminterpreten verbunden
sei.96
Der historische Zusammenhang, in dem die verfassungs-
rechtliche Normierung der Menschenwürde steht, kann eben-
falls nicht zugunsten einer Relativierung ins Feld geführt
werden. Vielmehr spricht gerade der historische Kontext ge-
gen eine Aberkennung der Menschenwürde in Bereichen,
an die zwar möglicherweise zunächst nicht gedacht war,
die aber doch den Kernbereich der Gewährleistung betref-
fen. Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes standen
die Menschenrechtsverletzungen im Vordergrund, die in der
Zeit des Nationalsozialismus traurige Wirklichkeit waren.
Aber das bedeutet nicht, dass es nicht neue, andere For-
men von Würdeverletzungen geben kann, die im Kern den
gleichen oder einen vergleichbaren Gehalt haben. Einer nach
Stufen verschiedener Schutzbedürftigkeit unterscheidenden
Argumentation liegt jedoch die Konstruktion einer strik-
ten Abgrenzung der Geborenen von den Ungeborenen zu-
grunde. Der Einwand, an das ungeborene Leben sei dabei
95Hoerster spricht von „vorpersonalem Wesen“ (wie Anm. 90), S. 11.
96Böckenförde (wie Anm. 72).
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
45
nicht gedacht worden, kann schon deshalb nicht überzeugen,
weil Rechtsnormen schon aufgrund ihres abstrakt-generellen
Charakters auch auf Situationen Anwendung finden, die bei
Erlass der Norm nicht explizit im Fokus der Betrachtung
standen.
Entgegen der Annahme Herdegens und Dreiers handelt
es sich bei der Erstreckung der Menschenwürde in ihrer ab-
soluten Geltung auf das vorgeburtliche Stadium nicht um
eine unzulässige Rückwirkung. Eine Vorwirkung oder an-
tizipierte Rückwirkung der Menschenwürdegarantie in das
vorgeburtliche Stadium liegt, entgegen der Vorstellung Her-
degens, schon begrifflich nicht vor. Rückwirkung wird in
der staatsrechtlichen Literatur unter dem Gesichtspunkt der
Rückerstreckung eines Gesetzes zu Lasten des Bürgers dis-
kutiert. Im vorliegenden Zusammenhang wird hingegen ei-
ne Rückwirkung zugunsten diskutiert und dies mit der Er-
wägung verneint, dass eine solche nicht geboten sei. Ent-
scheidender als die Frage, ob eine Rückwirkung zugunsten
zulässig wäre, ist jedoch, dass es sich hier in einem enge-
ren Sinn überhaupt nicht um eine Frage der Rückwirkung
handelt. Denn es wird nicht eine in einem Gesetz gewährte
Vergünstigung vorverlegt auf einen Zeitraum vor Erlass des
Gesetzes, was die Definition der echten Rückwirkung ist,97
sondern der Tatsache Rechnung getragen, dass das mensch-
liche Leben mit der Zeugung beginnt. Die Formel von „frü-
hesten Formen menschlichen Lebens“ ist in ihrer Diktion
irreführend, weil es nicht um eine spezifische Form geht,
97Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, GG Kommentar, 12. Aufl. 2012,
Art. 20 Rn. 68; BVerfGE 114, 258, 300; 95, 64, 86; 101, 239, 263; 126,
369, 391; 97, 67, 78.
46
Friederike Hoffmann-Klein
sondern um die reguläre Art und Weise der Entwicklung
eines jeden Menschen. Folgerichtig nimmt das Bundesver-
fassungsgericht deshalb an, dass auch das Leben im prä-
natalen Stadium innerhalb und außerhalb des Mutterleibes
Grundrechts-Subjekt und Träger der Menschenwürde ist.98
Die Diskussion, die von Herdegen und Dreier geführt wird,
sie ist längst entschieden.
Es geht nicht um ein aliud, wie der Begriff der „frühe-
sten Formen“ unterstellt, nicht um eine besondere Form,
sondern um ein- und dieselbe unteilbare Existenz. Wenn
von „abwägungsfreiem Würdeanspruch“ gesprochen wird,
ist damit der Vorwurf verbunden, es an notwendiger Dif-
ferenzierung mangeln zu lassen.99 Ähnlich der Begriff der
„würdegeleiteten Tabuisierung“, den Herdegen denjenigen
macht, die die Garantie der Menschenwürde ernst nehmen
und deshalb auch auf ungeborene Menschen anwenden. Ge-
genüber einer aus der Sicht des Autors eingeschränkten oder
gar beschränkten Sichtweise wird das eigene Konzept ei-
ner „prozesshaften Betrachtung des Würdeschutzes mit ent-
wicklungsabhängiger Intensität eines bestehenden Achtungs-
und Schutzanspruchs“ als vermeintlich überlegene Sichtwei-
se dargestellt. Nur eine solche differenzierte und differen-
zierende Sichtweise könne auch eine „Rückerstreckung der
Menschenwürde“ auf früheste Stadien des menschlichen Le-
bens rechtfertigen. Hier verkennt der Autor, dass der Ge-
danke der Menschenwürde sowohl in seiner vor-positiven
Bedeutung als auch seiner positiv-rechtlichen Gewährlei-
98Bruno Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl.
2013, Art. 1 Rn. 12 unter Bezugnahme auf BVerfGE 39, 1.
99Herdegen (wie Anm. 87), Art. 1 Rn. 61: „die Gegner jeder Diffe-
renzierung“.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
47
stung eine Einbeziehung des vorgeburtlichen Menschen nicht
nur gestattet, sondern sogar gebietet.
Überzeugen kann auch nicht die Annahme, dass sich aus
der - angenommenen - Unsicherheit über die Frage des
pränatalen Würdeschutzes gesteigerte Begründungsanfor-
derungen im Hinblick auf ein Verletzungsurteil ergeben wür-
den. Eine solche Schlussfolgerung lässt sich auch nicht unter
Hinweis auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG ziehen, der
verlange, die Menschenwürde „zu achten“, und der nach
dieser Auffassung deshalb auf den geborenen Menschen zu-
geschnitten sei, weil nur dieser sozial mit anderen intera-
giere und damit Subjekt eines Achtungsanspruchs sein kön-
ne. Die Betrachtung einer bestimmten Art und Weise, in
der sich die Stellung des Menschen in der Gesellschaft aus-
drücke, die notwendigerweise ein bestimmtes Lebensalter
voraussetzt, ist schon deshalb nicht geeignet, den präna-
talen Würdeschutz zu widerlegen, weil sie die Betrachtung
auf einen einzelnen Aspekt verkürzt. Daraus kann nicht ge-
schlossen werden, dass die Annahme einer Würdeverletzung
für ein Entwicklungsstadium, in dem diese kommunikati-
ve Komponente noch nicht gelebt wird, schwer begründbar
ist. Herdegen sieht im Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG eine
weitere Hürde, sofern dieser von der Würde des Menschen,
nicht von menschlichem Leben handelt,100 was allerdings
das Bundesverfassungsgericht in der Formel: „Wo menschli-
100Ähnlich Müller-Terpitz (wie Anm. 31), der darauf verweist, dass
nicht von der Würde „menschlicher Daseinsformen“ gesprochen werde,
S. 337, oder Dreier (wie Anm. 86), Rn. 68, der für entscheidend hält,
dass von „Mensch“, nicht von „menschlichem Leben allgemein“ die
Rede sei.
48
Friederike Hoffmann-Klein
ches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“101 in-
soweit gleichgestellt habe. Dies wird von Herdegen mit der
Bemerkung kritisiert, die Formel trage wenig zur Bestim-
mung des Würdeschutzes im Rahmen der frühen mensch-
lichen Entwicklung bei.102 Einmal mehr wird das ungebo-
rene Leben ohne Notwendigkeit aus der Betrachtung aus-
geklammert. Für Herdegen bedeutet ein nach unterschied-
lichen Entwicklungsgraden gestufter Menschenwürdeschutz
zwar die Formulierung desjenigen Achtungs- und Schutzan-
spruchs, welcher der Entwicklungsstufe des pränatalen Le-
bens angemessen sein soll. Mit dem Verweis auf einen dem
pränatalen Leben angemessenen Schutz wird eine positive
Begrifflichkeit jedoch dazu benutzt, fundamentale Rechte
einzuschränken.
Die absolute Geltung des Schutzes der Menschenwürde
nicht antasten zu wollen, dieser dann jedoch erst als ei-
nem unter Berücksichtigung anderer hochrangiger Verfas-
101BVerfG, Urteil v. 25.2.1975, 1. Abtreibungsurteil, BVerfGE 39,
1
(37). Auch im Parlamentarischen Rat herrschte Einigkeit darüber,
dass mit der Entscheidung für die Formulierung von der Würde „des
Menschen“ gerade eine umfassende Beschreibung erfolgen sollte, die
nicht - wie der Begriff des menschlichen Lebens - einseitig die bio-
logische Komponente betont hätte, vgl. Parlamentarischer Rat, Zitat
Helene Weber, Rainer Beckmann, Der Parlamentarische Rat und das
„keimende Leben“, Der Staat, Heft 4/2008, S. 551 ff.: Die Einbezie-
hung des ungeborenen Lebens in den Schutzbereich der Gewährlei-
stung des Rechts auf Leben lasse sich als die mehrheitliche Auffas-
sung der Mitglieder des Hauptausschusses des Parlamentarischen Ra-
tes ausmachen; zurückhaltender insoweit Müller-Terpitz (wie Anm.
31), S. 236 ff.; Christian Hillgruber, Biopolitische Neubestimmung des
Menschen - Menschenwürde und personale Autonomie, Beitrag zum
Colloquium des Lindenthal-Instituts, Köln 4.11.2017.
102Ebenso Dreier (wie Anm. 86), Rn. 68.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de
Der menschliche Embryo als Person
49
sungsbelange konkretisierten Würdeanspruch Geltung ein-
zuräumen, stellt einen Widerspruch dar. Menschenwürde
und Recht auf Leben können nicht kompromissweise für
eine bestimmte Frist ausgesetzt werden. Mit wohltuender
Klarheit weist die Kommentierung von v. Mangoldt / Klein
/ Starck darauf hin, dass die Menschenwürde bei geborenen
und ungeborenen Menschen nicht unterschiedlich definiert
sein kann. Auch das ungeborene Leben ist im Dasein um
seiner selbst willen zu achten, und hierin liegt seine Wür-
de. Anders als viele juristische Autoren weiß Starck um die
Unverzichtbarkeit eines konsequenten und umfassenden Le-
bensschutzes für das einzelne Leben, für „das Werden der
Person“.103 Das ungeborene Leben muss deshalb Vorrang
vor dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter haben, weil es
bei der Mutter um Rechtsgüter von weit geringerem Ge-
wicht geht. Für die Mutter bedeutet das Kind im negativ-
sten Fall „nur“ Pflichten und Lasten.[ˆ104 ]104
Eine unterschiedliche Gewährleistung der Menschenwür-
de in Abhängigkeit vom Lebensalter scheidet nicht nur für
den geborenen Menschen selbstverständlich aus. Dann aber
kann sie auch nicht für diejenigen zugelassen werden, die
noch ganz am Anfang ihres Lebens stehen. Das ungeborene
Kind ist nicht, wie Herdegen glaubt, von vornherein weni-
ger schutzbedürftig.105 Die als statisch missverstandene und
kritisierte Auffassung, die einen Schutz auch in der Früh-
phase menschlichen Lebens vertritt, ist der Notwendigkeit
geschuldet, diese irreführend als „Frühformen“ bezeichneten
103V. Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl.
2005, Art. 1 Rn. 94.
104V. Mangoldt / Klein / Starck (wie Anm. 103).
105Vgl. Herdegen, JZ 2001, 773 ff.
50
Friederike Hoffmann-Klein
Phasen des menschlichen Lebens ebenfalls zu erfassen, wenn
die Garantie der Menschenwürde für die betroffenen Perso-
nen nicht leerlaufen soll. Wenn Herdegen an der h.M.106
kritisiert, dass sie zwar bei der Menschenwürde eine abso-
lute Betrachtung vornimmt, dann aber bei Art. 2 Abs. 2 S.
1 GG, dem Recht auf Leben, ein unterschiedliches Maß des
Lebensschutzes anwendet, so ist mit dieser durchaus berech-
tigten Kritik ein Beweis für die Angemessenheit oder gar
Notwendigkeit einer nach dem Entwicklungsstand differen-
zierenden Betrachtung der Menschenwürde gleichwohl nicht
erbracht. Bemerkenswert ist die Formulierung, dass dieses
nach Entwicklungsstand unterschiedliche Maß des Lebens-
schutzes dem Ungeborenen geschuldet sei. So als ob es hier
darum ginge, seinem Dasein die ihm gebührende Achtung
zukommen zu lassen, statt seine Rechte einzuschränken.
Erst recht kann nicht überzeugen, wenn Herdegen auf die
von Karl Popper entwickelte und thematisierte Unterschei-
dung zwischen „rationaler“ und „fanatischer“ Argumentati-
on zurückgreift, um die Argumentation derjenigen zu kenn-
zeichnen, die den Würdeschutz des ungeborenen Menschen
uneingeschränkt bejahen. Herdegen glaubt jedoch, dass die
Annahme eines uneingeschränkten Würdeschutzes auch des
ungeborenen Menschen ein Beispiel einer solch „fanatischen
Argumentation“ sei, dadurch gekennzeichnet, dass ihre Prä-
missen weder rational begründbar seien noch dem herr-
schenden Rechtsbewusstsein in der Staatengemeinschaft oder
in der deutschen Gesellschaft entsprächen.107
106BVerfGE 88, 203, 251; a.A. Dreier bereits, in: ders. (Hrsg.), Grund-
gesetz, Band I, 1996, Art. 1 Abs. 1 Rn. 51: Schutz der Menschenwürde
erst ab der Geburt.
107Herdegen (wie Anm. 87), Rn. 59.
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Der menschliche Embryo als Person
51
Eine Abwägung aufgrund der Umstände des Einzelfalls
dient in der Rechtsordnung dazu, den Betroffenen in be-
sonderer Weise gerecht zu werden. Hier jedoch wird das
rechtliche Instrument der Abwägung in gegenteiliger Wei-
se gebraucht, nämlich dazu, einem Menschen das funda-
mentale Recht auf Leben zu entziehen. Das Konzept des
abgestuften Würdeschutzes führt in Bezug auf die Men-
schenwürdegarantie weg von dem tragenden Fundament der
nach dem Krieg neu errichteten staatlichen Ordnung, hin
zu einer Verfassungsnorm neben anderen. Die geistigen und
geschichtlichen Grundlagen des Begriffs der Menschenwür-
de verlieren so, wie Böckenförde kritisiert, ihre Relevanz.
Menschenwürde wird zu einem rein positivistischen Begriff.
Die Menschenwürde, deren Verankerung in der Verfassung
aus den menschenverachtenden Handlungen des „Dritten
Reiches“ hervorgegangen ist, verliert ihren Charakter einer
Fundamentalnorm für eine neue staatliche Ordnung, weil
die Erinnerung an das Unrecht, das ein Bewusstsein für
ihre Notwendigkeit begründete, verblasst ist. Ein solches
Ergebnis hätte, so Böckenförde, Dürig nicht gewollt. Und
es entspricht nicht der Entscheidung des historischen Ge-
setzgebers, die Menschenwürde in ihrer Unverletzbarkeit als
verfassungsrechtliche Grundnorm zu setzen.
Die Befürchtung, dass eine „Verabsolutierung des Prin-
zips der Menschenwürde“ zu einer Loslösung von dem kon-
kreten Menschen und seinem subjektiven Recht auf Schutz
und menschenwürdige Behandlung führe,108 erweist sich als
108Friedhelm Hufen, JZ 2004, 316 ff.; H. Dreier, Menschenwürde in
der Rechtsprechung des BVerwG, in: Festgabe BVerwG, 2003, S. 201,
219.
52
Friederike Hoffmann-Klein
unbegründet. Es geht nicht darum, ein Prinzip der Würde
gegen die Würde des konkret existierenden leidenden Men-
schen auszuspielen. Dies kann nur annehmen, wer den un-
geborenen Menschen nicht mehr im Blick hat. Von einem
biologistisch-naturalis-
tischen Fehlschluss, von einer „denkwürdigen Reduktion“
des Menschen auf biologische Grundfunktionen dadurch,
dass auch den „frühesten Formen“ Menschenwürde zuer-
kannt wird, lässt sich nicht sprechen. Wer den Schutz der
Menschenwürde vom Beginn des Lebens an vertritt, der
unterliegt nicht einem biologistisch-naturalistischen Fehl-
schluss, sondern handelt zunächst aus der Erkenntnis her-
aus, dass der Mensch, der individuelle Mensch, dieses voll-
ständigen Schutzes bedarf, wenn seine Rechte nicht leerlau-
fen sollen. Zugrunde liegt hier auch die tiefere Erkenntnis,
dass der Mensch auch an seinem Lebensanfang mehr ist als
nur biologisches Leben, dass er von Anfang an Person ist,
mit dem für das Personsein konstitutiven Wesen, dem gei-
stigen Substanzsein im Leib.
Es geht bei einer solchen Betrachtung keinesfalls allein
um christliche Wert- und Moralvorstellungen, die für all-
gemeinverbindlich erklärt werden sollen.109 Gerade die Dis-
kussion um das Lebensrecht des ungeborenen Kindes zeigt,
dass es hier nicht allein um ein christliches Verständnis geht,
sondern um anthropologische Grundwahrheiten.110 Richti-
gerweise kann es nicht darauf ankommen, ob eine Meinung
109Eine solche nach Auffassung Hufens bedenkliche Sichtweise vertritt
BVerwGE 84, 314; BVerwG NJW 1996, 1423.
110Vgl. Hoffmann-Klein, Ovid und andere Lebensschützer, Die Tages-
post v. 10.3.2017, http://www.die-tagespost.de/feuilleton/Ovid-und-
andere-Lebensschuetzer;art310,176868.
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Der menschliche Embryo als Person
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zu der philosophisch-ethischen Frage nach dem Status des
Embryo von einer Mehrheit geteilt wird, sondern allein dar-
auf, welches die richtige Antwort ist.111 Es geht nicht um
eine bestimmte theistische oder religiöse Position, es geht
auch nicht um religiöse Deutung und ihre Berechtigung und
Legitimationskraft in einem säkularen Staat, sondern aus-
schließlich um die Frage der Richtigkeit und Wahrheit der
gefundenen Antwort.112
Wenn behauptet wird, dass den „Stufen- und Wachstums-
theorien der Menschenwürde“ der Vorzug größerer Diffe-
renzierung zukomme, so wird damit nicht eine methodisch
wertvollere, sondern eine interessengeleitete Sichtweise be-
schrieben, ein Gedanke, der bisweilen ganz offen ausgespro-
chen wird.113 Letztlich geht es solchen Auffassungen um
die Ausgrenzung des „noch unbewussten Lebens“ aus dem
Schutzbereich der Menschenwürde. Und so wird einer et-
waigen Berufung auf Kant für einen absoluten Würdeschutz
mit dem Argument begegnet, dass gerade für Kant die (ent-
wickelte) Vernunft zwingendes Kriterium des Würdeschut-
zes sein müsse, denn auf ihn gehe die Forderung zurück,
dass jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst exi-
stiere.114
Kant dürfe nicht für eine bestimmte Auslegung
der Menschenwürde „verzweckt“ werden. Es ist jedoch da-
von auszugehen, dass Kant die hier thematisierten Fragen
nicht im Blick hatte, so dass derartige Schlüsse verfehlt sind.
111Damschen/Schönecker (wie Anm. 12), S. 194.
112A.a.O., S. 195.
113Hufen (wie Anm. 109).
114Hufen, a.a.O. unter Berufung auf Immanuel Kant, Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, 1785, bearb. u. hrsg. von H.J. Steffen,
1996, S. 76; Dreier (wie Anm. 86), Rn. 85.
54
Friederike Hoffmann-Klein
Kant setzt sich mit der Stellung des Menschen auseinander,
die diesem als vernunftbegabtem Wesen zukommt.
Es kann nicht die Aufgabe und Befugnis des Gesetzge-
bers sein, Menschenwürde per definitionem zu versagen.115
Dies entspricht auch der Position des Bundesverfassungsge-
richts. Menschliches Dasein genügt.116 Eine säkulare Kultur
hat uns gelehrt, das Leben zu ignorieren, solange es klein
und dem menschlichen Auge nicht sichtbar ist. Aber diese
Sichtweise ist falsch. In den Worten der Schriftstellerin Sal-
ly Read: „The smallness of a life does not diminish it; the
brevity of a moment does not reduce its importance.“
115Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, 1. Aufl. 2006, S. 85.; von
Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Bd. I,
1985, Art. 1 Rn. 14.
116BVerfG, Urteil vom 28.5.1993, BVerfGE 88, 203.
Aemaet Bd. 7, Nr. 1 (2018) 2-54, http://aemaet.de