Aemaet
Wissenschaftliche Zeitschrift für Philosophie und Theologie
http://aemaet.de, ISSN 2195-173X
Rezension zu: ‘Die Menschenwürde als
Prinzip des Rechts - Eine
rechtsphilosophische Rekonstruktion’ von
Markus Rothhaar
Tübingen: Mohr Siebeck 2015 Preis: 89,00€ Seiten: 364
ISBN: 978-3161535581
Dorian Winter∗∗
2018
Eine weitere Monographie über „Menschenwürde“ zu schrei-
ben, scheint in Anbetracht einer wahren Publikationsflut, die
seit den 1990er Jahren die Wissenschaftslandschaft quer durch
sämtliche Disziplinen prägt, ein mutiges Unterfangen zu sein.
Mutig in dem Sinne, dass es seinen Mehrwert gegenüber ei-
ner bereits breit geführten Diskussion ausweisen muss. Markus
Der Text wird hier unter der Creative-Commons-Namensnennung-
Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht. Erscheinungsdatum 08.08.2018.
∗∗Dorian Winter promoviert in der Moraltheologie an der Theologischen
Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz). Er war von 2015-2018 wis-
senschaftlicher Assistent an der Professur für Theologische Ethik in Luzern
und ist derzeit in der Seelsorge im Bistum Chur tätig.
Epost: winterdorianXYZcom (ersetze ‘XYZ’ durch ‘@gmail.’)
Anschrift: Blumenfeldgasse 5, CH-6460 Altdorf
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Rezension zu: ‘Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts’
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von Markus Rothhaar
Rothhaar stellt sich dieser Herausforderung im Rahmen seiner
Habilitationsschrift zum rechtsphilosophischen Charakter der
Menschenwürde.
Rothhaar nimmt die deutschsprachige verfassungsrechtliche
und philosophische Diskussion zum Anlass, dem Menschenwür-
debegriff eine Krise zu diagnostizieren, da er als Äquivokation
für unzählige - bisweilen völlig zueinander konträr stehende -
Konzeptionen dient. Diese Diagnose sei sowohl gegenüber dem
verfassungsrechtlichen wie auch dem philosophischen Diskurs
zu stellen. Unter diesem Zustand leidend erfährt der Begriff der
Menschenwürde zurecht die Kritik, eine „unbestimmte Leer-
formel“ zu sein. Sich damit nicht zufrieden gebend wagt der
Autor eine Rekonstruktion des rechtlichen Menschenwürdebe-
griffs, die die Wiedererlangung seiner Eindeutigkeit - sowohl
hinsichtlich seines formalen Prinzips wie auch seines normati-
ven Gehalts - zum Ziel hat.
Zunächst widmet sich der Autor dem verfassungsrechtlichen
Diskurs über den Menschenwürdeartikel des deutschen Grund-
gesetzes. (S. 29-100). Er fokussiert sich darauf, die Aporien
und Widersprüche des Diskurses anhand einschlägiger Beispiele
freizulegen. Diese werden festgemacht an der verfassungsrecht-
lichen Rechtsprechung einerseits und der in der herrschenden
Meinung der Rechtsdogmatik spezifisch-rechtlichen Lesart des
Menschenwürdeartikels andererseits, die in der Menschenwür-
degarantie ein eigenes, verletzbares Grundrecht festmacht. Die-
se Aporien kontrastiert Rothhaar u. a. am Festhalten an der
Unantastbarkeit der Menschenwürde, die zugleich in eine Syste-
matik eingebettet ist, welche Kollisionen der Menschenwürde
von verschiedenen Subjekten nicht ausschließt (S. 96). Eine so
verstandene Menschenwürde ist zugleich unantastbar wie an-
tastbar. Diese und andere Aporien, wie auch die sich im Verfas-
sungsdiskurs eingeschlichene Indifferenz zwischen Rechts- und
Güterkonflikten, führen zur Bewertung des verfassungsrechtli-
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chen Diskurses als „zwiespältige[s] Bild“ (S. 94). Dieses nimmt
der Autor zum Anlass, eine rechtsphilosophische Rekonstruk-
tion vorzunehmen. Dazu bedient er sich des „Eigenrecht[s] der
Philosophie“ gegenüber der Rechtswissenschaft, der die „eigent-
liche Begründungsleistung im Hinblick auf die Menschenwürde
als Rechtsbegriff“ (S. 93-94) zukommt.
Diese Rekonstruktion fußt in der Moral- und Rechtsphiloso-
phie des Deutschen Idealismus, die einem Überblick des vor-
kantianischen Würdebegriffs folgt. Sie ist im Grunde eine Syn-
these aus Kants Menschenwürdebegriff und Fichtes anerken-
nungstheoretischer Rechtsphilosophie, abgerundet mit hegelia-
nischen Konkretisierungen. Die Auswahl erfolgt nicht nach will-
kürlich kontingenten Vorlieben des Verfassers, sondern grün-
det im Anspruch einer bestechenden Konsistenz, in der hin-
reichende und notwendige Kriterien einer transzendentalphilo-
sophischen Menschenwürdesystematik zusammenzufallen. Ro-
thhaar zeigt zunächst den begründeten Charakter des katego-
rischen Imperativs für Kants Würdeverständnis auf (S. 145-
181). Dem folgen Untersuchungen zu Kants Verständnis zum
Verhältnis zwischen Recht und Moral, die der Menschenwürde
einen systemischen Ort in Kants Rechtsverständnis nachweisen
können. Der wesentlich innovativer Charakter von Kants Wür-
deverständnis liegt den Untersuchungen Rothhaars zufolge in
seiner intersubjektiven Dimension. War der antike und scho-
lastische Würdebegriff primär von Pflichten gegen sich selbst
geprägt, legt Kant die normativen Schlussfolgerungen für In-
tersubjektivität und damit auch für das Recht frei. Desiderate,
die Rothhaar bei Kant in der Überführung von Selbstzweck-
lichkeit festmacht (S. 238), schließt er mit Fichtes Konzeption
der Anerkennung (S. 207-240).
Neben kleineren Exkursen zur Kritik an der Gleichsetzung
der Menschenwürde mit einem Erniedrigungsverbot (S. 241-
250) und zum Sklavereiverbot (309-312) münden die fundie-
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renden Überlegungen in zwei abschließende Kapitel, die nun
Klärungen versprechen. Das Kapitel über unbedingte Pflich-
ten und unabwägbare Rechte (S. 251-308) sowie das letzte zur
Menschenwürde als Rechtsprinzip (S. 313-337) formulieren nor-
mative Schlussfolgerungen, die einem konsistenten Menschen-
würdebegriff notwendigerweise geschuldet sind. Im ersten der
beiden Kapitel wird der deontologische Charakter des Rechts
aufgezeigt, der nicht folgenlos konsequentialistisch substituiert
werden kann. Konsequentialistische Rekonstruktionen negati-
ver Pflichten, so weist Rothhaar auf, tragen den Verlust der
Universalität mit sich (S. 267).
Im letzten Kapitel schließlich kommt die Konklusion zur Spra-
che, die aus zwei Hauptsträngen besteht: Menschenwürde, so
das Resultat, sei kein Begriff, der für Synonyme offen wäre oder
durch Synonyme (etwa Erniedrigungsverbot) eingeholt werden
könne. Sie ist im kantianischen Sinne Prinzip und Geltungs-
grund für Menschenrechte überhaupt und insofern prinzipia-
listisch zu lesen. Dieses Prinzip formuliert den unantastbaren
normativen Kern, der durch alle Menschenrechte geschützt ist,
nämlich „die äußere Handlungsfreiheit und deren Grundlage,
das Leben des freien Subjekts“ (S. 326) nicht anzutasten. Spe-
zifische Menschenrechte unterscheiden sich daher in ihrem nor-
mativen Kerngehalt nicht von der Menschenwürdegarantie, son-
dern konkretisieren diese und können nur universale Geltung
durch ihren gemeinsamen Referenzpunkt erfahren.
Die zweite Hauptschlussfolgerung betrifft die vermeintliche
Kollision von Grundrechten in Form von Grundrechtskonflik-
ten. Die Existenz eines solchen Konfliktes im eigentlichen Sinne
wird nachvollziehbar bestritten. Handelt es sich doch bei aus
den Anerkennungsprinzip resultierenden Rechten primär um
negative Pflichten und ausdrücklich nicht um Rechte auf be-
stimmte Güter (S. 329). Negative Pflichten können in keinem
Kollisionsverhältnis zueinander stehen.
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An Markus Rothhaars Arbeit scheint besonders hervorhebungs-
würdig, dass er sich die Mühe macht, zahlreiche Inkonsisten-
zen innerhalb des deutschen Menschenwürdediskurses aufzu-
decken. Dieser ist quer durch alle Wissenschaften bisweilen
stärker von verselbstständigten Narrativen über eine vermeint-
liche Menschenwürde geprägt als von einer seriösen Fundie-
rung, sodass beinahe jedes partikulare Interesse eine invocatio
auf den Würdebegriff meint formulieren zu können. Ein weite-
rer Verdienst besteht in der Lokalisierung des Lebensrechts im
Verhältnis zum Würdeverständnis. Den wachsenden Bemühun-
gen, Lebensrecht und Menschenwürde voneinander zu separie-
ren, stellt Rothhaar ein überzeugendes Argumentarium entge-
gen.
Eine herausragende intellektuelle Leistung besteht in der in-
tensiven, von großer Eigenständigkeit geprägten Hebung des
exegetischen Befunds zum Würdebegriff, den der Deutsche Idea-
lismus bietet. Gleichzeitig hätte die Eigenständigkeit keinen
qualitativen Abstrich erlitten, wäre stärker einschlägige Litera-
tur konsultiert worden, die nicht unwesentliche Gedanken ins-
besondere zu Kant hervorgebracht hat, die hier hätten einge-
ordnet werden können. Insbesondere drängt sich nämlich die
Frage auf, ob Kants Würdebegründung in der Befähigung zum
sittlichen Handeln tatsächlich ohne implizite metaphysische We-
sensbestimmungen auskommen vermag, wie beispielsweise Gui-
do Löhrer1 oder Claudia Mariéle Wulf2 überzeugend anzwei-
feln.
Wertvoll ist zudem die Widerlegung der zahlreich geworde-
1Vgl. Löhrer, Guido, Menschliche Würde: wissenschaftliche Geltung und
metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants, Freiburg i.B.
1995, S. 42
2Vgl. Wulf, Claudia Mariéle, Was ist gut? Eidetische Phänomenologie
als Impuls zur moraltheologischen Erkenntnistheorie, Vallendar 2010, S.
153-164.
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nen aktualistisch-empiristischen Uminterpretierungsversuche von
Kants Autonomieverständnis, mit denen Kant für Lockerung
des Embryonenschutzes in den Zeugenstand gerufen werden soll
(S. 182-186).
Die vorliegende Arbeit ist nicht einfach ein gelungener Bei-
trag unter vielen. Sie bereichert vielmehr durch eine vermisste
Redlichkeit in einem bisweilen sehr verwirrten und emotiven
Diskurs. In der Fülle bestehender Literatur verdient das vorlie-
gende Buch das Prädikat eines Standardwerkes, an dem es kein
Vorbeikommen gibt, wollen sich Rechtswissenschaftler, Philo-
sophen, Theologen oder Sozialwissenschaftler seriös mit Men-
schenwürde befassen.
Kritisch weiterzudenken wäre, ob der hier rekonstruierte kan-
tianische Menschenwürdebegriff in der Begegnung gegenwärti-
ger und zukünftiger Probleme etwa der Bioethik ausreicht. Be-
gnügt man sich damit, eine rechtlich relevante Würdeverletzung
letztlich nur in der äußeren Beschränkung der Handlungsfrei-
heit des Subjektes zu sehen, wären Formen der Instrumentali-
sierung, die sich durch Kontingenzeingriffe in der Reprodukti-
onsmedizin und/oder Gentechnologie auszeichnen, für den hier
rekonstruierten Würdebegriff nur bedingt interessant. Dort ist
dann zwar eine Verletzung fundamentaler Selbstzwecklichkeit
angezeigt, die aber nicht durch den kantischen Freiheitsbegriff
eingeholt werden kann.